Jan Ulrich Hasecke: Die Wahrheit des Sehens

Eine filmwissenschaftliche Arbeit über das Realismuskonzept in der Fernsehserie ›Dekalog‹ des polnischen Filmemachers Krzysztof Kieślowski.

Siebeneinhalb Minuten müssen die Zuschauer im Kino zusehen, wie ein junger Mann einen Taxifahrer ermordet. Er quält sich förmlich mit seinem Opfer ab. Es ist nicht leicht einen Menschen zu töten. Es dauert. Vom Rücksitz aus stranguliert er den Fahrer mit einem Seil. Mit aller Kraft. Dann verknotet er das Seil und schlägt mit einer Eisenstange auf den Kopf des Fahrers, bis er sich nicht mehr regt. Mit gebrochenen Augen starrt das Opfer seinen Mörder an. Der Junge zieht ihm einen Sack über den Kopf und schleift ihn zum Fluss. Da hört er ein Röcheln. Der Taxifahrer lebt noch. Der Junge nimmt einen schweren Stein, setzt sich auf sein Opfer, wuchtet den Stein in die Höhe und zerschmettert damit den Kopf des Taxifahrers. Abscheu und Entsetzen erfüllt die Zuschauer. Wenn ein Mörder die Todesstrafe verdient hat, dann diese Bestie! Doch dann, im zweiten Teil des Films, wird diese Bestie zum Tode verurteilt. Die Zuschauer müssen der Hinrichtung des Jungen beiwohnen. Kein Detail bleibt ihnen erspart. Und wieder empfinden sie Abscheu vor dem Töten eines Menschen. Als es endlich vorbei ist und der Abspann läuft, ist es im Kino totenstill. Wir schreiben das Jahr 1988. Der Film heißt ›Ein kurzer Film über das Töten‹ (Krótki film o zabijaniu) und ist von Krzysztof Kieślowski.

Der kurze Film über das Töten ist Teil einer zehnteiligen Fernsehserie, in der die Zehn Gebote verfilmt werden. Ihr Titel lautet ›Dekalog‹. ›Ein kurzer Film über das Töten‹ bezieht sich auf das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten. Als die Zuschauer aus dem Kino strömen, lässt der Abscheu langsam Raum für einen ersten Gedanken: Ja, es ist wahr. Du sollst nicht töten. – Kieślowski hat gerade mit den Mitteln des Kinos die Wahrheit, die Gültigkeit des fünften Gebotes demonstriert und keine Zweifel gelassen: du sollst nicht töten. Kieślowski hat den Zuschauer mit der Wahrheit des Tötens konfrontiert.

Der Film zeigte nicht das Hollywood-Klischee des schnellen Tötens im Actionfilm, nicht die Choreographie des Tötens, in der die Schüsse der Kamera und die des Maschinengewehrs einen verführerischen Totentanz aufführen. Der kurze Film über das Töten ist anders. Er ist ein Ausnahme. Er gehört zu den wenigen Filmen, die man nie vergisst. Wer damals im Kino saß und in Kieślowskis Spielfilm mit der Wahrheit des Tötens konfrontiert wurde, erlebte eine innere Wandlung. Er verließ den Kinosaal als ein anderer, weil er die Wahrheit geschaut hatte. Du sollst nicht töten.

Wie aber ist es mit den anderen Geboten? Sind auch diese Gebote wahr und noch heute gültig? Wird Kieślowski uns ihre Wahrheit ebenso eindringlich vor Augen führen? Was sollte die Gültigkeit der Zehn Gebote verbürgen, wenn nicht ihre Wahrheit? Wer sollte die Einhaltung der Gebote von uns fordern dürfen, es sei denn, er kenne die volle und ganze Wahrheit. Man kommt nicht umhin, sich mit der Frage der Wahrheit zu beschäftigen, wenn man Kieślowskis Fernsehserie untersucht. Damit aber wären wir bei einer Frage angelangt, die seit der Geburt des Kinos immer wieder diskutiert worden ist. Kann man in einem Film Wirklichkeit abbilden?

Jan Ulrich Hasecke geht dieser Frage nach. Er zeichnet die Debatte um den filmischen Realismus im 20. Jahrhundert nach und beschreibt die Entwicklung Kieślowskis vom Dokumentarfilmer zum Spielfilmregisseur. Mit dem Blick findet er schließlich ein tertium comparationis, das zwischen Film und Realität vermittelt. In einer minutiösen Filmanalyse zeigt er, wie Kieślowski Blickstrategien einsetzt, um den Zuschauer an der inneren Wirklichkeit der Filmfiguren teilhaben zu lassen, ihn emotional und intellektuell in das Geschehen hinein zu ziehen und ihn über die Mimesis der Blicke zum eigentlichen Ort des moralischen Konfliktes zu machen.

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