Komm in meine Arme, neues Jahr.

von René GrandjeanKolumne_allg_02

Beobachtet man die aktuelle Stimmungslage in den sozialen Netzwerken, befindet sich das Jahr 2016 auf der nach unten offenen Arschlochskala ungefähr auf einem Rang zwischen Hitler und dem Sensenmann. Damit keine Zweifel aufkommen, das ist eine beschissene Position, doch kann dieses Ergebnis kaum überraschen, lässt man die Ereignisse der vergangenen zwölf Monate vor dem geistigen Auge Revue passieren. What the fuck war denn da los? Beginnt ein Jahr mit dem Tod eines David Bowie, ist der Drops ja eigentlich schon gelutscht. Das Prince folgen würde, Leonard Cohen, George Michael, Carrie Fisher, Rick Parfitt, Alan Thicke, Greg Lake, Manfred Krug, Gene Wilder, Miriam Pilhau u.v.a. (diese Abkürzung erscheint am Ende dieser Aufzählung profan, aber – zu meinem großen Bedauern – zutreffend), man wird des Kopfschüttelns nicht müde. Doch nicht nur starben viele beliebte Prominente, die große unübersehbare Lücken im Fernsehprogramm, Plattenregal und natürlich in manchem Herzen hinterließen, auch Vernunft und die Errungenschaften der Aufklärungen wurden, so scheint es zumindest, 2016 mit wehenden Fahnen zu Grabe getragen.

Die Medien verkünden, man muss sich das wirklich auf der Zunge zergehen lassen, das postfaktische Zeitalter. Verschwörungstheorien, mehr denn je salonfähig (es scheint beinahe chic, sich zumindest einer zu verschreiben), metastasieren in alle Lebensbereiche. Reptiloide, echsenartige Außerirdische in Menschenverkleidung unterwandern unsere Führungsriegen. Hillary Clinton ist auch eine von ihnen, ein Segen, dass sie die Wahl verloren hat. Aber hat sie die Wahl tatsächlich verloren, oder ist dies auch ein Teil des großen Plans zur neuen Weltordnung, den nur Auserwählte durchschauen? In der Zukunft wird jeder für fünfzehn Minuten berühmt sein, orakelte einst Andy Warhol. In der Zukunft, so fürchte ich, wird gar mancher unter der Flut der Informationen zusammenbrechen.

So nachvollziehbar ist die Sehnsucht nach einfachen Antworten in einer unüberschaubaren Welt, der Wunsch, besonders zu sein, mehr zu sein als einer von vielen, das es mir nicht mal Freude bereitet, jene durch den Kakao zu ziehen, die ihm erliegen. Vielleicht, weil Hohn, Spott und Hochmut von zerstörerischem Hass nicht weit entfernt sind. Wetterbeeinflussende Chemikalien, sogenannte Chemtrails, im Auftrag der Regierung aus Flugzeugen versprüht, sollen die Folgen des Klimawandels auffangen und/oder uns, das Volk, umbringen. Mag sein, ich bin sentimental zwischen den Jahren, aber es muss schrecklich sein, in diesem Glauben zu leben. Auf wen noch verlassen, stellt man alles infrage?

Als Europa nach dem Zusammenbruch des römischen Imperiums in die finstere Epoche stürzte, die wir heute Mittelalter nennen, gehörte die Welt dem übersinnlich Schrecklichen, das überall lauerte. 2016 scheint Europa seiner selbst überdrüssig, die großartig friedenstiftende Idee des vereinten Kontinents bröckelt und ich hoffe, sie übersteht die Krise. Betrübt dieser Fakt tatsächlich weniger Menschen als die Bedrohung durch Chemtrails? Auch mir kommt oft Seltsames in den Sinn, das schreibe ich dann auf und nenne es Roman. Nicht Sachbuch. Und wer in jenen verschworenen Kreisen mit wissenschaftlichen Quellen aufwartet, wer fragt statt glaubt, der wird des nicht selbst Denkens überführt.

Dass diese im stillen Kämmerchen angerührte Hirnkotze auf verschlungenen Pfaden via die „Erde ist eine Pizza, aber keine Calzone“ zu den ganz und gar nicht lustigen Reichsbürgern, der Verleugnung der Verbrechen des Dritten Reichs und schließlich zur aktuellen politischen Stimmungslage im Land führt – puh. Dabei weiß doch jeder, dass die einzige reale Bedrohung die anstehende Zombie-Apokalypse ist, ihr Amateure.

Der Kampf der Kulturen, wie Samuel Phillips Huntington ihn in seinem gleichnamigen Buch von 1996 voraussagte, ist im vollen Gange. Ich wette, er ärgert sich, dass er recht behielt. Menschen suchen Zuflucht vor Krieg, Zerstörung und Armut in den Ländern, denen es besser geht; der gut situierten Europäer fürchtet deshalb um den eigenen Wohlstand. Kostete sie, geneigter Leser, im vergangenen Jahr die Wirtschaftskrise oder ein Besucher aus einer zerbombten Stadt eine warme Mahlzeit, brachte sie um ein paar frische Socken oder verdarb ihnen den gemütlichen Fernsehabend? Dennoch, die Stimmung ist im Keller.

Ich möchte gar nicht leugnen, dass im Jahr 2016 rund um den Globus viel Furchtbares geschah, das auch mich keineswegs kalt ließ. Es ist jedoch Unfug, dafür die Zeitspanne zu beschimpfen, welche die Erde braucht, um einmal die Sonne zu umkreisen. Verfluchen sie doch stattdessen die Evolution, die uns Menschen zu pelzlosen Weichkäsen verkommen ließ, die gegen Naturkatastrophen außerhalb steinerner Wände und ohne technische Hilfsmittel nur mäßig gerüstet sind. Es hätte uns allen viel Kummer erspart, wären unsere Vorfahren in den Ozeanen geblieben, doch es ist, wie es ist. Prince starb an zu vielen Medikamenten, David Bowie an Krebs, Leonard Cohen am Alter. Auch 2017 werden Menschen sterben. Gerechter wird es da auch nicht zugehen. By the way, bevor ein Mensch erschossen wird (recht weit verbreitet, aber vermeidbar), wurden irgendwo Waffen und Munition entwickelt, hergestellt, verkauft und geliefert. Schimpfen wir doch alle gemeinsam mal darüber.

Die im vergangenen Jahr in Deutschland häufigsten Suchbegriffe auf Google waren nicht etwa Atomschutzbunker, Lebensmittelmarke oder Sackrattenkamm, sondern EM 2016, dicht gefolgt von Pokémon Go. Süß. Ich für meinen Teil hörte „Komm rein“ viel öfter als „Verpiss dich“, und „Schön dich zu sehen“ öfter als „Nicht der schon wieder“. Aus Quellen, die ich mir selbst ausgedacht habe, geht eindeutig hervor, dass täglich und weltweit viel öfter „Ich liebe dich“ als „Ich hasse dich“ gesagt wird. Es gab gute neue Folgen der „Gilmore Girls“, fantastische neue Serien wie „Stranger Things“ und einen unerwartet großartigen Star-Wars Film. Junge Künstler wie Blood Orange oder Solange Knowles, die kleine Schwester von Beyoncé, veröffentlichten atemberaubend gute Alben. Herzliche Menschen kreuzten meinen Weg und blieben, stützen und bereichern mich, andere ließ ich zu ihrem und vor allem meinem Wohl zurück. Meine Katze hat mich so lieb, dass ich nicht ein einziges Mal ungestört die Toilette besuchen konnte. 2016 haben mehr Lebewesen überlebt als nicht. Das ist doch was, oder?

So möchte ich ihnen im Namen aller Qindie-Autoren für das Jahr 2017 Zufriedenheit wünschen. Erlauben sie uns, sie weiterhin gut zu unterhalten. Der großartige Douglas Adams brachte es einst in einem winzigen Satz auf den Punkt, der mir oft als Mantra dient: keine Panik! Mein Name ist René Grandjean, und wenn sie das hier lesen, sind sie lebendig.