Kolumne: Hereinspaziert!

Kolumne Melanie MeierKreativität

Willkommen in meinem Kopf!

Kreativität ist angeblich ansteckend.
Aber nur wenige wissen, dass sie auch anstrengend ist.
(Wolfgang J. Reus)

Eigentlich sollte heute ein anderer Beitrag von mir erscheinen, in dem ich mich mit dem Thema ›Kunst und Wahnsinn‹ beschäftige. Allerdings hat sich im Laufe der Auseinandersetzung mit diesen beiden Größen herausgestellt, dass ich zuvor ein anderes Kapitel behandeln muss, einfach um euch den Begriff ›Kunst‹ nicht undefiniert vor die Füße zu werfen. Das wäre leichtsinnig^^. Darum will ich erst einmal den Versuch wagen, die Kunst respektive die Kreativität in ein möglichst passendes Kostüm zu packen, ehe ich euch im nächsten Beitrag mit dem Wahnsinn komme.

Die Kunst ist um eine Definition verlegen. Dieses Wort hat kaum noch Bedeutung, weil es für allerlei herangezogen wird (es ist auch eine Kunst, wenn man anhand irgendwelcher Maxime durchs Leben geht); fast genauso steht es um die Kreativität, wobei ihr wenigstens noch im weitesten Sinn die Beschränkung auf jenen Prozess zukommt, auf den es mir ankommt: auf den Schöpfungsprozess. Und darum mache ich Nägel mit Köpfen und widme mich allein der Kreativität.

Was ist Kreativität?

Ist es kreativ, wenn ich ein Bild abmale? Wenn ich Socken stricke? Ein Muster in die Butter zeichne? Eine Symphonie komponiere? Ein Physiker bin und eine neue, revolutionäre Theorie erarbeite? Aus den Haaren meiner Katze einen Teppichvorleger knüpfe (oh doch, das geht! – bei dem Haarausfall …!^^)? Wenn ich als Informatiker ein neues Programm entwickle? Oder meine Einbauküche mit Klebefolie überziehe?

Der Begriff ›Kreativität‹ stammt vom lateinischen ›creare‹, was ›erschaffen‹ bedeutet. In der Sprachwissenschaft heißt es, es sei die ›Fähigkeit, von endlichen sprachlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch zu machen‹ (Quelle: Wiktionary.org).

Persönlich bevorzuge ich die Definition, die ich in der Psychologie gefunden habe: Kreativität ist, wenn etwas Originelles innerhalb eines Prozesses entsteht (frei aus dem Kopf zitiert). Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Originalität, die somit für sich beansprucht, dass dieses Etwas zuvor nicht existierte.

Ich fühlte mich schon immer etwas missgelaunt, wenn mir jemand sagte, er habe eine ›kreative Ader‹, hätte diese von Familienmitglied XY vererbt bekommen, oder – noch schlimmer – er fühle sich nun plötzlich kreativ und müsse entsprechende Handlungen vollbringen. Klar, jemand, der so etwas von sich gibt, hat keine Sekunde darauf verschwendet, über Kreativität nachzudenken; man kann es ihm kaum vorwerfen. Ich behaupte sogar, dass er sie gar nicht kennt, die ›echte‹ Kreativität. Sonst würde er so etwas nicht sagen. Sonst wüsste er, dass eine ›kreative Ader‹ nichts anderes ist als eine Fertigkeit, die man über die Jahre mit viel Übung, Fleiß, Disziplin und mit sehr, sehr viel Mühsal erlangt.

Man erbt vielleicht Talent, aber keine Kreativität. Und man wird nicht jäh von einer Sekunde auf die andere kreativ, sondern man arbeitet sich in die Kreativität hinein, mit Betonung auf ›Arbeit‹. Alle anderen Anwandlungen, die man landläufig mit Kreativität verwechselt, sind genau das: etwas anderes (und das bedeutet keine Abwertung, es ist überhaupt keine Wertung, nur eine bloße Feststellung).

Es gibt nicht umsonst ganze Forschungsteams, die sich allein mit diesem Phänomen beschäftigen, Gehirnaktivitäten messen (die Veränderungen innerhalb neurologischer ›Verdrahtungen‹ sind durch Langzeitstudien belegt; ein ›kreatives Gehirn‹ ist anders vernetzt), psychologisch und philosophisch der Sache auf den Grund gehen wollen et cetera.

Und dann sind da noch Menschen wie ich, die sich intuitiv, ohne überhaupt zu wissen, was sie da machen, in die Kreativität hineinbegeben und sich anschließend fast für verrückt halten, weil andere sog. Kreative ganz anders sind, im direkten Vergleich nicht so extrem, nicht so exzentrisch, nicht so verschroben (ich bin nichts davon – die anderen sind all das, nicht ich!^^). Dabei waren jene, mit denen ich mich verglich, überhaupt keine Kreativen. Dazu allerdings dann mehr im nächsten Beitrag, wenn wir uns an den (vermeintlichen?) Wahnsinn heranwagen.

Was also ist Kreativität?

Kreativität erfordert in gewissem Sinn und in erster Linie ein Eigenstudium, also das Studium der eigenen Person, weil man sich sehr gut kennen muss, um im richtigen Augenblick das Richtige zu tun: Einsamkeit suchen oder unter Menschen gehen, Ideen verwerfen und andere verfolgen, recherchieren oder abstrahieren, bestimmte Menschen in bestimmten Phasen nicht treffen oder genau sie und niemand anderen treffen, dringende Arbeit ungeachtet der Dringlichkeit liegenlassen, gewisses Sinnempfinden suchen oder vermeiden, etwas nicht essen, oder ein ausgiebiges Nickerchen machen … und so weiter und so fort. Man muss in jeder Phase des Prozesses wissen, wo man steht, damit man das zarte Pflänzchen namens Kreativität nicht zerstört. Und dabei hat man noch nicht einmal angefangen, irgendetwas umzusetzen und in die Welt zu holen, hat kein Wort geschrieben, keinen Pinselstrich gemalt, keine Note zu Papier gebracht, den Klumpen Ton nicht einmal angefasst.

Mitunter bringt man währenddessen Opfer. Ich kann ein Lied davon singen. Beispielsweise ziehe ich mich über Wochen komplett zurück, treffe kaum jemanden, vermeide alle Arten von Terminen und schraube meinen Brotjob möglichst auf ein Minimum zurück. Deswegen sind schon Freundschaften zerbrochen, und einer Beziehung tut es auch nicht gut, wenn ich sage: ›Du, ich bin die nächsten zwei bis drei Wochen nicht erreichbar. Bitte störe mich nur, wenn es ein absoluter Notfall ist. Bis dann.‹ Es gibt andere Phasen, da muss ich hinaus und (anonym, allein) unter Menschen gehen, dabei bin ich aber recht empfindlich und manchmal gar aggressiv, weil ich nicht ich bin. Ich bin irgendwo und irgendwas, mehr ein Schwamm als ein Mensch, sauge Eindrücke in mich auf, bin kaum ansprechbar. Und wehe dem, der mich stört! Die wirtschaftliche Komponente, der man ggf. nicht gerecht wird, darf ich auch nicht unerwähnt lassen.

Kommt dieses Etwas schließlich auf die Welt, dann ist das wie ein Rausch, dann fließt das wie von selbst, dann sieht es für andere aus, als gäbe es nichts, das einfacher wäre. Das Außen sieht nun einmal diesen vorangegangenen Prozess nicht, kann ihn nicht erahnen. Und das Außen kennt auch diesen Rausch nicht, der sowohl wunderbar als auch grauenvoll ist, weil er über einen hereinbricht wie ein Orkan, ungeachtet der Uhrzeit, des körperlichen Befindens oder sonstigen ›Belanglosigkeiten‹. Und dahingestellt sei auch, ob dieses frischgeborene Etwas originell und/oder ausgereift ist – zumeist ist es das noch nicht, zumeist dauert das sehr viel länger, manchmal – nein, meistens – Jahre.

Danach folgt die innere Leere, die bittersüßeste Erschöpfung, die ich kenne, wenn die Kreativität erst einmal ausgeschöpft ist. (Die Arbeit ist damit noch lange nicht getan, aber das nur nebenbei.)

Kreativität ist also etwas, das man erlernt. Manche bedienen sich ihrer unbewusst oder nennen sie anders, andere sind regelrecht die Kreativität in Person, von klein auf, und verfeinern diesen Prozess deshalb mehr intuitiv. Ab einem gewissen Grad muss die Kreativität allerdings bewusst wahrgenommen werden, sonst stagniert man (oder hält sich für wahnsinnig). Und in allen Fällen bleibt die Tatsache bestehen: Kreativität ist harte Arbeit und kein Apfel, der einem in den Schoß fällt. Darüber hinaus wächst die Kreativität mit dem handwerklichen Können – umso weniger ich über das Handwerk an sich nachdenken muss, desto freier kann die Kreativität sich entfalten.

Wenn man den Anspruch an sich selbst hat, Originalität zu erbringen und nicht nach einem originellen Werk in immer derselben Struktur/demselben Schema stecken zu bleiben (ich denke gerade an bestimmte (erfolgreiche) Autoren, die stets dasselbe in anderen Farben und mit anderen Namen schreiben, mitunter dabei nur bei anderen (erfolgreichen) Autoren abkupfern), bleibt einem nichts anderes übrig, als sich der Kreativität hinzugeben. Und man muss auch wissen, dass Kreativität nicht wie eine Maschine funktioniert und sie/sich realistisch einschätzen können. (So manche ›Zwischenarbeiten‹ purzeln auf dem Weg zum originellen Werk heraus wie Sägespäne; lässt sich oft schön beobachten.)

Nun stelle ich die Einfangsfragen noch einmal und antworte:
Ist es kreativ, wenn ich ein Bild abmale? – Nein (weil abgemalt).
Wenn ich Socken stricke? – Nein (Socken gibt es schon sehr lange, soweit ich weiß).
Ein Muster in die Butter zeichne? – Vielleicht, kommt darauf an.
Eine Symphonie komponiere? – Ja (selbstverständlich).
Ein Physiker bin und eine neue, revolutionäre Theorie erarbeite? – Ja (logisch).
Aus den Haaren meiner Katze einen Teppichvorleger knüpfe? – Nein (s. Socken; wobei man hierüber wahrscheinlich streiten könnte, weil Katzenhaar).
Wenn ich als Informatiker ein neues Programm entwickle? – Ja (wenn es wirklich neu ist).
Oder meine Einbauküche mit Klebefolie überziehe? – Nein (um Gottes willen!).

Kreativität ist ein langwieriges, anstrengendes Unterfangen, und weil die wenigsten aus ersichtlichen Gründen bereit oder fähig sind, sich den vielen zu erbringenden, traurigen Opfern zu stellen (nicht jeder Lebensweg ermöglicht eine intensive Auseinandersetzung), existieren auf der Welt auch nur wenige wirklich originelle Werke (im Verhältnis zu sämtlichen Veröffentlichungen).

Das war’s meinerseits. Bin gespannt auf Feedback und verabschiede mich bis zum nächsten Mal, wenn’s endlich um den Wahnsinn geht.

Melanie Meier

6 Replies to “Kolumne: Hereinspaziert!”

  1. Sueder

    Schöner Artikel! Interessante Thesen.

    Was ist mit Kunst, die aus bestehenden Werken abgeleitet wird und sich aus dem Ursprung weiterentwickelt/verändert und somit einen ganz neuen Eindruck vermittelt, bzw. eine andere Aussage vertritt (beispielsweise durch Rekonstruktion eines bestehenden Motivs mithilfe einer gänzlich, von der Vorlage, abweichenden Technik)?
    Ich würde dies keinesfalls zu reinem Abmalen zählen (Kreativität wird hier definieren, wessen hierbei entstehendes Werk man als größere Kunst antizipieren sollte). In digitaler, kreativer Umgebung ist dies ein weit verbreitetes und auch wichtiges Element, Kreativität anzuwenden. In vierlerlei Bereichen, wie z.B Film, VFX, Fotografie und Kamera, werden oft selbige Motive bzw. Objekte vielfach reproduziert, wobei jedoch die zugehörigen Konfigurationen (u.a. auch Perspektive, Lichtverhältnisse, Wetter u.v.m ) das entstehende Werk einzigartig werden lassen.
    Ich persönlich würde jene Prozesse, in jeglicher Hinsicht, durchaus als kreativ betiteln.
    Wobei hier die nächste Frage bezüglich des Artikels aufgeworfen wird – Ist Kreativität eng, oder sogar strikt, mit analogem Schaffen bzw. einer handwerklichen Tätigkeit verwoben?

    Greetings

    1. Melanie Meier

      Das würde ich so stehen lassen – nach meinem Dafürhalten wäre das auf jeden Fall ein kreativer Prozess. Da entsteht etwas Neues, definitv.
      So gesehen gibt es ja für alles eine Vorlage: für den Protagonisten gängige Verhaltensweisen, für Gemälde Landschaften, für Skulpturen vorhandene natürliche Formen etc. Durch den kreativen Prozess aber, der eine Beschäftigung mit dem „Vorhandenen“ erfordert, entsteht etwas Neues, und zwar „aus dem eigenen Inneren heraus“. Darauf kommt es mir an.
      Mit dem Abmalen meine ich tatsächlich eine reine Kopie. Ich selbst zeichne nur ab, eins-zu-eins, weil mir für alles andere in dieser Hinsicht die Begabung fehlt. Daher bin ich überhaupt auf dieses Beispiel gekommen. ^^ Das wiederum soll aber eine solche Tätigkeit auf keinen Fall abwerten, weil sie für so allerlei gut sein kann, und sei es – wie in meinem Fall – „nur“ für das Training des genauen Hinsehens, das mir letztlich wieder beim Schreiben hilft.
      Ich glaube auch nicht, dass Kreativität unbedingt mit einem Handwerk verwoben sein muss. Es muss am Ende nicht mal etwas dabei herauskommen, kann als bloßer Prozess im Menschen stattfinden, ohne dass er ihm jemals Ausdruck verleiht (was aber bestimmt schade wäre^^).

      1. Melanie Meier

        Ps: Das sind nicht meine Thesen. 🙂 Wie erwähnt, habe ich die Definition aus der psychologischen Forschung „geklaut“ (nicht sehr originell 😀 ) und nur mit meinen eigenen Erfahrungen und Überlegungen „gewürzt“.

  2. Katharina Gerlach Post author

    Ich würde auch das Abmalen eines Bildes als kreativ bezeichnen, wenn es nicht darum geht, das Bild perfekt zu reproduzieren. Kinder zum Beispiel malen gerne Bilder ab, das tun sie aber sehr, sehr kreativ, d.h. mit viel eigener Interpretation. Sie lernen dabei Techniken, die ihnen vorher fremd waren, oder entwickeln einen neuen Blick für Darstellungen. Meiner Meinung nach gehört das Lernen auf diese Art ebenso zum kreativen Prozess, wie das Erschaffen neuer Kunstwerke.

    1. Melanie Meier

      Oh ja, Kinder sind ein einmaliges Beispiel für Kreativität! Ihnen fällt es noch so viel leichter, weil sie noch nicht konditioniert sind und nicht in eingefahrenen Bahnen denken. 🙂
      Wie ich in obigem Kommentar schon erwähnt habe, bin ich da einer Meinung mit euch. Das ist in meinen Augen ein kreativer Prozess, sei es bei Kindern oder bei Erwachsenen.
      Was das Lernen angeht, stimme ich auch zu. Meistens sind die Übergänge ja fließend: Lerne ich handwerklich dazu, habe ich in Sachen Kreativität plötzlich wieder ganz andere Möglichkeiten, und umgekehrt genauso.