Kritiken: was, wie, wo, wer?
Willkommen in meinem Kopf!
Kritik: oje! Was für ein Thema!
Auf meinen ersten ›Hereinspaziert!‹-Beitrag (›Das Streben nach Anerkennung‹) habe ich einen entsprechenden Kommentar bekommen, der mich dazu veranlasst hat, mich – schon wieder – mit dem Thema der Kritik auseinanderzusetzen.
Zuerst einmal: Was ist Kritik? Ich bemühe Wikipedia: ›Unter Kritik versteht man die Beurteilung eines Gegenstandes oder einer Handlung anhand von Maßstäben.‹ Weil mir das zu windig ist, ziehe ich außerdem das Wiktionary zurate: ›[1] fachmännische, objektive Beurteilung eines Produktes bzw. Werkes; [2] im Gegensatz zu [1] eine nicht fachmännische, manchmal subjektive Beurteilung; [3] häufig wird Kritik auch ausschließlich als negative Beurteilung verstanden; [4] Philosophie: „Beurteilung, auch Fähigkeit der Beurteilung, der Prüfung…, die vor den Folgen von Täuschung und Irrtum bewahrt“[1].‹
Die Definitionen [3] und [4] streiche ich in meinem Geiste sofort wieder. Für mich beinhaltet eine Kritik sowohl die negativen als auch die positiven Aspekte eines Werkes; wenn jemand Lob ausspricht, kann das in meinen Augen Kritik sein. Und die philosophische Sinndeutung läuft in ihrem Kern auf Definition [1] hinaus, wenngleich sie einen etwas weiteren Bogen spannt und sich auch mit Irrtum und Täuschung beschäftigt, aber das ist in diesem Kontext nicht allzu wesentlich.
Nun frage ich mich persönlich seit meiner Jugend, was Objektivität eigentlich ist. Zu manchen Zeiten vertrat ich vehement die Ansicht, es gäbe keine Objektivität, da diese, sobald ein Mensch sie ›verarbeitet‹, prompt subjektiviert werden. Ich ging sogar einen Schritt weiter und bezog das bloße Sinnempfinden wie Ansehen und Hinhören in die Überlegung mit ein, schlicht weil wir durch gewisse Forschungen wissen, dass selbst das Sinnempfinden ein subjektiver Vorgang ist, im Falle des Sehens abhängig von Sehrezeptoren etc. Die individuelle Physis spielt also ebenso eine Rolle, genauso wie neurologische Abläufe. Und erst dann kann eine Interpretation stattfinden, die ja schon nicht mehr objektiv sein kann, wenn jemand beispielsweise über mehr Sehrezeptoren verfügt als ein anderer (Frauen besitzen angeblich doppelt so viele wie Männer). Das ließe sich nun fortführen, beispielsweise könnte ich überlegen, in welchem Tonfall ein bloßer Wert gesagt wurde, oder wie ich zu dem Sprecher stehe …
Der Rückschluss: Für uns Menschen gibt es keine absolute Objektivität.
Das möchte ich an dieser Stelle nicht weiter ausführen. Zum einen haben sich schon klügere Köpfe damit befasst, zum anderen führt es zu nichts. Tatsache (da ist sie wieder, die Tatsache) bleibt, dass wir dennoch zu einem Konsens gelangen, wir Menschen, denn wir scheinen ja trotz allem etwas wahrzunehmen, das wir dank der Sprache als Gegebenheit verstehen. Die Straße ist eine Straße, weil alle Welt sagt, es sei eine. Ob ich nun mehr Farben sehe oder sie womöglich in ihrer Beschaffenheit gänzlich von dem abweicht, was mein Nachbar sieht oder riecht oder hört – mein Nachbar und ich fahren ja trotzdem beide mit unseren Autos auf ihr.
Ich will mit dieser Darlegung nur den Begriff der Objektivität etwas entschärfen. Es gibt sie nicht, die absolute Objektivität im Sinn von übergeordneten Standpunkten, abseits von Physis und Psyche.
Zurück zu Definition [2], ›eine nicht fachmännische, manchmal subjektive Beurteilung‹. Das trifft auf die meisten aller Kritiken/Rezensionen zu. Die häufigsten Bewertungen, die ich im Internet (egal zu welchen Produkten) finden kann, entspringen eindeutig subjektiven Maßstäben. Wie auch anders? Die meisten Konsumenten wollen ja genau das: konsumieren. Es geht ihnen um die Erfahrung, nicht um handwerkliches Können. Wenn ein Gerät nicht funktioniert, schildern sie das Problem, verweisen aber nicht auf einen integrierten Chip, auf dem ein Bug innerhalb der Programmierung für mechanische Mängel sorgt. So eine Rezension wäre die Ausnahme, einfach weil wir heute in einer beruflich spezialisierten Welt leben.
Derartiges Feedback fällt für mich nicht mehr unter den Begriff der Kritik, streift ihn aber. Die Überlappung ist gering und liegt nur insofern vor, als sie einen Defekt als bloßen Wert aufweist, auf den der Hersteller reagieren kann.
Funktioniert das Gerät nicht in der Weise, wie es der Konsument gern gehabt hätte, weicht vielleicht die Farbe von seiner Vorstellung etwas ab, sind wir vollständig im Subjektiven angelangt. Ab diesem Moment gleiten wir in eine diffuse Wolke des subjektiven Nebels ab, in dem man sich in (zumeist unsachlichen) Differenzierungen verlieren kann. Der Hersteller könnte versuchen, sein Gerät dem Feedback entsprechend zu modifizieren, damit dieser Konsument (oder eine Konsumentengruppe) zufriedener ist. Er könnte aber auch die Annahme vertreten, der Konsument gehöre nicht zu seinem Zielpublikum und sei deshalb enttäuscht. Der Hersteller, sofern es nicht ein gesichtsloser Großkonzern ist, sondern ein Mensch, könnte auch an sich selbst und seinen Fähigkeiten zu zweifeln beginnen. Und so weiter und so fort.
In diesem undurchdringlichen Nebel findet man so allerlei, aber keine Kritik. Das sind Meinungen, nicht mehr und nicht weniger, und jegliche Reflexion derselben scheitert daran, dass ich nicht der Rezensent bin und unmöglich in ihn hineinsehen kann. Eine solche Denkarbeit ist mühsam und bringt nichts als Frust und Missverständnisse ein. Sie ist in ihrer Sinndeutung nicht einmal eine echte Reflexion, weil sie fremden, undefinierten Begrifflichkeiten entspringt und damit abstrakt wird.
Unterscheiden kann ich diese Meinungen von Kritiken sehr einfach, indem ich überprüfe, ob ich es mit einem Fachmann zu tun habe oder nicht. Und diesen erkenne ich an der von ihm verwendeten Semantik. Listet er nur vermeintliche Mängel auf, ohne zu begründen? Wie sind seine Begründungen formuliert? Haben sie Hand und Fuß? Analysiert er systematisch? Spielen subjektive Empfindungen mit hinein, oder zeigt er an Argumenten, wodurch diese Empfindungen verursacht sind?
›Ich konnte das Buch nicht weglegen‹ ist keine Kritik, um es simpel auszudrücken. ›Ich konnte das Buch nicht weglegen, denn durch … und … wurde die Spannung erhalten, außerdem ist … gut durchdacht und … vorhanden‹ klingt schon eher nach einer Kritik von jemandem, der auf diesem Gebiet bewandert ist, wenngleich das natürlich immer besser und tiefer geht. Wie tief Analysen in fundiertem Wissen fußen, erkennt man wiederum an den verwendeten Begriffen und den Differenzierungen.
Damit kann ich als Schriftsteller etwas anfangen, ich kann an meinen Texten feilen, weil der Kritiker-Finger auf ein konkretes Problem – oder auf etwas Gelungenes – hinweist.
Und doch bleibt sie, die Subjektivität. Ein Kritiker kann noch so analytisch vorgehen, sein persönlicher Geschmack wird stets durchscheinen. Wenn nicht offen, dann in Form der Semantik im Allgemeinen, also im Subtext und/oder in verwendeten Begriffen.
Die Interpretation dieser Begriffe ist es wiederum, die ausschlaggebend ist, sowohl für weitere mögliche Kunden als auch für den Schriftsteller bzw. den Hersteller, um bei dem Beispiel zu bleiben. Wird er bei der Verarbeitung der Kritik gleichfalls analytisch vorgehen, reagiert er gekränkt, oder freut er sich? Ein einziges Wort kann unterschiedliche Reaktionen hervorrufen.
Außerdem spielt meines Erachtens die Grundeinstellung beider eine große Rolle. In den elementaren Fragen können analytische Standpunkte so weit auseinandergehen, dass man keine Übereinstimmung mehr findet. Was für den einen beispielsweise trivial ist, weil es sich trivialer Kniffe bedient, um ein Ziel zu erreichen, ist für den anderen anspruchsvoll, eben aufgrund dieser Kniffe. Entstehen solche Diskrepanzen, ist es gut möglich, dass ich eine Kritik in ihrer Ursächlichkeit ablehne, nicht weil sie auf subjektiven Faktoren basiert, sondern weil ich schlicht nicht mit der Denkart übereinstimme.
Ergo: Egal wie sachlich und systematisch man denkt, im Untergrund lauert die Subjektivität u. a. als Gefühl, das sich einmischt. Und es bringt selten etwas, es zu verdrängen oder mit Begrifflichkeiten schönzureden – es bleibt (Fragen Sie Ihren Psychiater oder Psychologen; das Unbewusste in ein mieser Verräter, nicht das Schicksal :D).
Kritik: Nichts weiter als der Versuch, sich der Objektivität anzunähern. Das ist mein persönliches Fazit.