Woher kommen Protagonist und Handlung?
Willkommen in meinem Kopf!
Im Folgenden möchte ich eine wilde Theorie hinsichtlich der Herangehensweise von Schriftstellern an Romane aufstellen, über die ich im Laufe der vergangenen Tage nachzugrübeln anfing. Eigentlich ist es vielmehr das Ziehen eines Rückschlusses von der Art und Weise, wie ein Schriftsteller an einen Roman herangeht, auf den Schriftsteller selbst.
Es ist in erster Linie wirklich nicht mehr als eine Überlegung, schlicht weil mir die Vergleichsmöglichkeiten fehlen. (Nach Kant kann ich es demnach nicht wissen, und an Kant musste ich in den letzten, düsteren Tagen bei verschiedenen Gelegenheiten denken. Manchem täte es wohl nicht schlecht, sich mit Kants Frage ›Was kann ich wissen?‹ auseinanderzusetzen^^.)
Auf diese Idee bin ich deshalb gekommen, weil ich als Chefredakteurin des Q-Mags, das demnächst veröffentlicht wird, vermehrt mit dem Thema des Plottens konfrontiert werde. Die Artikel aller zum Mag Beitragenden gingen bei mir ein, und besonders jener von Susanne Gerdom, in dem verschiedene Herangehensweisen an konkreten Aussagen verschiedener AutorInnen dargelegt werden, hat mich nachdenklich gemacht. Darin zeigte sich relativ klar, dass bei einigen der Protagonist vor der Handlung entsteht, bei anderen andersherum. (Das Mag erscheint voraussichtlich im Dezember 2015.)
Fangen wir an:
Ich setze den Protagonisten dem Subjekt gleich und die Handlung dem Objekt. Das als ersten Schritt. Diese Begriffe muss ich nicht definieren, der allgemeine Sprachgebrauch von Subjekt (Individuum) und Objekt (Gegenstand) reicht völlig aus, um meinem Gedankengang folgen zu können.
Nun allerdings möchte ich den Schriftsteller als solchen, der sich sowohl Subjekt als auch Objekt (Protagonisten und Handlung) ersinnt, in die Überlegung miteinbeziehen. Und ich will nach C. G. Jungs Auslegungen die Begriffe des extrovertierten und des introvertierten Typen bemühen.
Jungs Analysen sind selbstverständlich sehr, sehr viel diffiziler und differenzierter, aber um meine Idee darlegen zu können, genügt es, wenn ich eine kurze Definition beider Begriffe gebe:
Der extrovertierte Typ ist, wie es der Name schon sagt, auf das Objekt bezogen. Seine Wahrnehmung, seine Art zu denken und zu fühlen, seine ganze Lebensweise gründet vornehmlich auf der Auseinandersetzung mit dem Objekt und damit mit dem Kollektiv und geht darüber nur in der Weise hinaus, als es bewusst in den verschiedenen Veranlagungen reflektiert wird bzw. diesen zugrunde liegt.
Der introvertierte Typ ist sein Gegenteil: Er gründet die genannten Vorgänge hauptsächlich auf das Subjekt, auf das eigene (innere) Ich. Anders als im herkömmlichen Sprachgebrauch ist das Introvertierte hier kein Synonym für gesellschaftliche Isolation oder gar Schüchternheit, sondern beschreibt vielmehr die Art und Weise der Auseinandersetzung mit dem Objekt, so wie auch das Extrovertierte kein bloßer Materialismus sein muss. Es sind die Ausprägungen, mit welchen jeweils bewusst oder unbewusst in den verschiedenen zu unterscheidenden Bereichen vorgegangen wird, die in die Extreme führen.
Da mir das wichtig ist, betone ich: Natürlich ist kein Mensch nur extro- oder introvertiert; dafür sind wir viel zu komplex, wir Menschen. Das sind Grundtendenzen, wenn man so will. Sieht man individuell jeweils genauer hin, findet man bei jedem, je nach Situation und Anforderung, sowohl das Extro- als auch das Introvertierte. Dennoch tendieren wir in bestimmten Situationen in unserer Grundsätzlichkeit entweder zum einen oder zum anderen. Um diese Tendenz geht es mir, auch unabhängig von C. G. Jungs Werken, die man für gut oder schlecht befinden kann. Sie dienen mir in diesem Kontext nur als Definitionen, damit ich die Idee darlegen kann.
Ein Schriftsteller also, der in seiner (auf das Schreiben bezogenen, daher auf die Ursächlichkeit des Willens zum Schreiben gegründeten) Grundtendenz introvertiert ist und sich demnach von der Außenwelt in gewissem Maße abgesondert wahrnimmt, wird, so glaube ich, seine Romane auf die Protagonisten bauen. Sie sind es jedenfalls bei mir, die die alleinige Vorherrschaft haben. Bevor ich auch nur einen Satz schreibe, ja bevor ich noch weiß, wie mein Protagonist aussieht, ist mir rundum klar, wie es um sein Inneres bestellt ist. Aus diesem Innenleben heraus schließe ich sowohl auf sein Aussehen als auch auf seine Vergangenheit, die ihn so hat werden lassen. Selbst die Nebenfiguren um ihn herum entstehen aus diesem Subjekt, ganz im Sinne der Affinität: mal ziehen sich gewisse Eigenschaften im Rahmen einer Freundschaft (oder Feindschaft) an, mal stoßen sie sich ab.
Das Objekt in Form von Aussehen, Ortschaften, Wohnungseinrichtungen etc. erschließt sich mir aus dem Subjekt, aus dem ›inneren Ich‹. So ist es auch mit der Handlung. Sie ergibt sich aus dem Subjekt; der Konflikt, um den es in einem Roman immer geht, ob es nun einen Antagonisten gibt oder nicht, entwickelt sich zwangsläufig aus dem Innenleben des Protagonisten. Weiß ich, wie es in ihm ›zugeht‹, dann weiß ich auch, wie es in seinem Antagonisten (das ist nun das einfachste Beispiel) ›zugehen‹ muss, damit sie sich bis aufs Blut bekämpfen. Daraus entstehen die Handlungen meiner Romane.
Ist ein Schriftsteller nun in seiner Grundtendenz eher der extrovertierte Typ, so vermute ich das Objekt, also die Handlung, im Vordergrund stehend. So wie sich der Introvertierte in erster Instanz vom Objekt mehr oder weniger absondert, sondert sich der Extrovertierte vom Subjekt ab. Ihm erschließt sich demnach das Subjekt aus dem Objekt.
Wie das im Einzelnen vonstattengeht, kann ich nur raten bzw. logisch nachzuvollziehen versuchen, und doch gelingt es mir nicht. Hier stoße ich an meine Grenzen. Es ist mir beinahe unmöglich, den Vorgang von der anderen Seite aus (nicht nur denkend, sondern auch fühlend und empfindend) zu fassen zu bekommen; ich habe eine nebulöse Vorstellung, doch eben weil meine Wahrnehmung gänzlich andere Wege beschreitet, kann ich keinen konkreten Entwurf darlegen. Es ist mir schlicht nicht möglich.
Mir drängt sich der simple Gedankengang auf, man könne dem Protagonisten ein bestimmtes Äußeres geben, ihn beispielsweise mit Nieten, Springerstiefeln, Irokesenschnitt etc. versehen und von diesem Äußeren auf sein Inneres schließen, doch damit betrüge ich mich selbst. Das ist nichts weiter als ein gedankliches, ja begriffliches Konstrukt, das wiederum aus meiner introvertierten Grundtendenz entspringt, der nun einmal das ›innere Ich‹ des Protagonisten zugrunde liegt. Ich vollführe einen begrifflichen Tanz, der aber stets aus derselben Ausgangsstellung vollzogen wird. Höchstwahrscheinlich wird es so oder so ähnlich wie im Beispiel des Punks dargelegt bei einer extrovertierten Tendenz vonstattengehen, doch davon kann ich schlicht nichts wissen. Es ist mir unzugänglich.
Das ist also meine wilde Überlegung in groben Zügen, von der ich selbst nicht so recht weiß, wie haltbar sie ist. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich Feedback bekäme!
Mit deinem Beispiel für extrovertiertes Herangehen springst du zu kurz, denke ich. Du gehst noch immer von der Hauptfigur aus, nur zeichnest du sie zunächst und willst daraus ihr Denken ableiten. Wenn ich von meinen Figuren ausgehe, funktioniert das aber ganz anders. Zunächst ist da die Geschichte. Ich weiß, worum es ganz grob geht. Damit weiß ich, was für einen Typen ich da als Protagonisten und Antagonisten brauche. Ich kenne zunächst nicht ihr wahres Fühlen, sondern ein paar Dinge, die sie tun oder lassen. Aus diesem Tun kann man auf ihr Fühlen schließen und vielleicht auch auf ihr Aussehen. Das ist manchmal gerade so als, würde ich ein Show, don‘t Tell meiner eigenen Protas erleben.
Du hast recht! Es stimmt also wirklich: Ich habe dazu überhaupt keinen Zugang.
Vielen Dank für das Feedback! Auf genau so etwas habe ich gehofft! 🙂
Ich bin eher der Typ in der Mitte. Zwar geht es mir zunächst immer um die Handlung, denn es ist meistens ein interessanter Konflikt, über den ich schreiben will, aber die Figuren entdecke ich ähnlich wie du, von innen nach außen. Ich schreibe mir für jede Szene einer geplanten Geschichte einen Satz mit max. 30 Worten, der mir genau sagt, was an Handlung passieren muss, damit die Story vorwärts geht. Dabei wird die Hauptfigur nur mit 2 Wörtern beschrieben. Wenn ich dann mit dem Schreiben beginne, krieche ich in das Herz meiner Figur und versuche zu ergründen, wie sie die von mir vorgegeben Handlungen angehen würde. Mit jeder Szene dringe ich tiefer in meine Figuren vor und entdecke so manches, was mich überrascht. Und am Ende kann ich sogar eine körperliche Beschreibung zusammenstellen, die ich dann während der Überarbeitung am Anfang der Geschichte einfügen kann.
Streng genommen kommst du demnach auch von der Handlung, also von der Szene, zum Protagonisten. So wie ich vom Protagonisten aus in die Handlung vordringe, dringst du von der Szene zum Protagonisten vor.
Der anschließende Prozess, den du beschreibst, ist ja, wenn ich es richtig verstehe, der zweite Schritt. Dass man in diesem auch erst einmal tief ins Innere des Protagonisten bzw. der Handlung eintauchen muss, ist zwangsläufig erforderlich, wenn man eine gewisse Tiefgründkeit erreichen möchte.
Das ist wirklich interessant! Auch dir vielen Dank für das Feedback, Katharina!