Drei Alte – ein Märchen

Von Michael Siedentopf

Vor langer Zeit, als das Gefährlichste, was einem auf dem Markt von Bagdad begegnen konnte, ein Derwisch in Ekstase war, boten dort auch stets Geschichtenerzähler ihre Dienste feil. Für ein paar Piaster berichteten sie dem wohlmeinenden Publikum von fremden Ländern, abenteuerlichen Reisen, liebreizenden Prinzessinnen, bösen Zauberern, weisen Ratgebern und mutigen Jünglingen. Man lauschte ihren Worten mit Andacht, bedachte sie mit Beifall oder bei Missfallen mit faulem Obst vom benachbarten Stand eines Bauern.

Alter MannEines Tages kam der Sultan mit seinen Beratern zum Markt, denn er wollte seiner Tochter eine Freude bereiten. Sie sollte einen Hofgeschichtenerzähler bekommen, der ihr die dunklen Stunden versüßte, bis endlich ein Bräutigam für sie gefunden. So ließ der Sultan verkünden, die Geschichtenerzähler Bagdads mögen sich am nächsten Tage auf dem Markt einfinden und ihre Kunst vorführen, auf dass er den Besten auswähle, ihm an den Hof zu folgen.

Der erste, der am nächsten Tage auf das vorbereitete Podest trat, erzählte die Geschichte einer wunderschönen Prinzessin, die von einem Drachen geraubt und einem edlen Prinzen befreit wurde. Doch der alte Mann, der schon fast keine Zähne mehr im Mund hatte, stotterte. Seine Sprache war holprig, er verwechselte Buchstaben und Worte. Unter den Zuhörern machte sich Unruhe breit, je länger sie den Ausführungen folgten. Die Geschichte hätte spannend sein können, wenn denn die Menschen ihr hätten folgen können, aber allzu oft verstanden sie nicht recht, was der Alte sagen wollte.

Bevor die ersten Tomaten durch die Luft segeln konnten, klatschte der Sultan in die Hände.

„Schweig, Alter!“, rief er aus. „Kannst du nicht sprechen wie ein Mensch?“

„Ich spräche sei‘ vielen Jahr zzzo“, erwiderte der Mann.

„Dann geh und sprich andernorts, nicht hier.“ Der Sultan winkte und man führte den Mann hinfort.

Ein zweiter trat vor, auch reich an Jahren, sein ergrautes Haar nur noch ein Kranz. Er nahm eine Pfeife aus der Tasche, stopfte sie sorgfältig und hub an.

Weitschweifig erklärte er den Bürgern und dem Sultan, auch er wolle über ein Abenteuer berichten, eines, das ein Seemann an den Gestaden einer fernen Küste erlebt. Er berichtete von Kindheit und Jugend seines Helden, ließ keine Krankheit und kein Unbill aus, das den Jungen im Laufe der Jahre befallen, schilderte lang und blumenreich, die Gewänder, die er liebte, die Tiere, die er gehegt und die Verwandten, die ihn umsorgt. Wort auf Wort, Satz auf Satz türmte er, doch zu seinen Füßen breitete sich das große Gähnen aus.

Als selbst der Sultan einzunicken drohte, fuhr einer der Berater den Mann an: „Will er nicht endlich anfangen mit seiner Geschichte?“

Dieser erwiderte: „Aber Herr, dies ist die Geschichte. Schon als kleiner Junge liebte ich es, meine Mutter mit solcherart Berichten zu erfreuen. Oft saßen wir, Mutter und ich, bei Tische, meine Leibspeise dampfte vor mir auf dem … “

„Haltet ein“, rief der Sultan dazwischen. „Eure Geschichte handelt von nichts. Ihr sprecht und sprecht und kommt nicht vom Flecke. Geht und erzählt dies den Rindern auf der Weide.“

Ein Wink und man führte den Alten hinfort.

Ein Dritter trat auf das Podium.

„Gebe Allah, dieser ist besser“, brummte der Sultan, dessen Miene seine finstere Stimmung spiegelte.

„Tief im Westen, wo die Sonne sinkt, lebte einst ein armer Mann“, so begann der dritte Alte seine Geschichte. Seine Stimme war fest und klar, ohne Zögern und Zaudern sprach er. Er malte mit Worten Bilder, die die Zuhörer immer mehr in ihren Bann zogen, so dass sie sich bald nicht mehr auf dem Markte wähnten, sondern in einem fernen Land. Sie begleiteten einen Helden auf seiner Reise, ein Untier zu erschlagen und die Liebe zu gewinnen. Als er des Untiers ansichtig wurde, bangten sie mit ihm. Als Verrat ihn in den Kerker zwang, fluchten sie mit ihm. Als er die Prinzessin schließlich in die Arme schloss, freuten sie sich mit ihm.

Wie angekettet hatte der Sultan gesessen und gelauscht. Wäre ein Djinn gekommen und hätte ihm drei Wünsche gewährt, so wären seine Worte gewesen: „Jetzt nicht, erst will ich das zu Ende hören.“ Ganz hatte ihn die Kunst des Geschichtenerzählers gefangengenommen, er, der Herr über Bagdad, war ein Sklave der Worte geworden.

Als der Alte aber geendet hatte, sprach er: „Komm morgen in den Palast. Du seist mein Hofgeschichtenerzähler. Jeden Tag sollst du mir und meiner Tochter von neuen Abenteuer berichten.“

Der Alte schaute den Sultan lange an. „Warum sollte ich? Hier auf dem Markte, wo alle meine Geschichten hören können, ist mein Platz.“

„Ich mache dich reich. Ich schenke dir Gold und Edelsteine.“

„Und doch wäre ich nicht frei. Ich wäre ein Vogel in einem goldenen Käfig. Ihr würdet mir sagen wollen, wovon ich erzähle. Ihr würdet mir sagen wollen, welche Worte ich wählen darf. Das ist nicht mein Begehr. Doch wenn Ihr mich gern erzählen höret, werde ich immer hier sein, auf dem Markt. Dort wo Ihr mich heute gefunden, werde ich sein und erzählen.“

Und wenn er nicht gestorben ist, und das ist er nicht, so erzählt er seine Geschichten noch heute. Sogar mit Q.

Michael Siedentopf

 

2 Replies to “Drei Alte – ein Märchen”

    1. David Pawn

      Oder die vier Musketiere oder vier alle? Eigentlich es jeder Autor für mich, der es schafft so zu schreiben, dass ich über seinem Buch die wichtigen Sachen vergessen kann, die ich eigentlich erledigen müsste.