Käsekuchen oder Wie man einen Klassiker liest ohne sich den Magen zu verderben [Kolumne: Muffins]

Von Simone Keil

Als ich mir am letzten Wochenende ein Stück Käsekuchen aus dem Kühlschrank nehmen wollte, fand ich hinter den Joghurts und den Tennissocken eine Ausgabe von Nabokovs Lolita. Die hatte ich wahrscheinlich mal kaltgelegt, um sie an einem warmen Sommerabend zu mir zu nehmen. Und dann vergessen.

Muffins KolumneIm ersten Augenblick habe ich mich gefreut, aber dann wurde ich skeptisch. Wie lange lag der Roman schon dort? Und war er überhaupt noch genießbar? Als er gedruckt wurde, gab es ja leider noch keine Mindesthaltbarkeitsangaben auf Büchern und ich hatte wirklich keine Lust, mir irgendwas einzufangen.

Ich klappte mal den Deckel auf und schnupperte vorsichtig an den ersten Seiten. Roch eigentlich noch ganz annehmbar. Die Geschmacksprobe war auch okay. Aber was ist mit diesen fiesen unsichtbaren Bakterien, die einem probiotisches Feelgood vorgaukeln, dann aber höllische Magenschmerzen bereiten? Und haben Bücher eigentlich auch linksdrehende Schriftkulturen? Ich meine, man will ja lesen und nicht kotzen.

Heutzutage ist das alles einfacher und von der Industrie gut geregelt. Wenn man eins dieser pinkfarbenen Cick-Lit-Liebesfantasyfickbücher aus der mittleren Besteckschublade in einem dieser netten Haushaltswaren-Kalender-Stofftiergeschäfte kauft, bekommt man klare Angaben zum Verfallsdatum mitgeliefert. Hergestellt am – genießbar bis zum – danach bitte in die Papiertonne und den Deckel fest zumachen. Das half mir aber nun im Falle Nabokov auch nicht weiter, so beschloss ich erst einmal nichts zu unternehmen.

Am darauffolgenden Montag schnappte ich mir Lolita, nahm sie mit in einen besagter Läden, hielt sie der Haushaltswarenverkäuferin unter die Nase und fragte, ob das Buch noch genießbar sei und welche Beschwerden es machen könnte, wenn ich es las, obwohl das Verfallsdatum womöglich überschritten wäre, wenn das Buch denn eines hätte.

Sie kramte in der Besteckschublade, wühlte die Regionalhäkeldecken durch, das Regal mit den Puschelhandschellen in verschiedenen Lilaschattierungen, schüttelte dann den Kopf und zuckte die Schultern. Es tue ihr leid, sagte sie, aber bei nicht anglistizierten Markennamen wäre sie generell vorsichtig. Ob ich die aktuelle Verrechnungsaktion nutzen und das Buch gegen etwas Lindgrünes eintauschen wolle? Sie hätten lindgrüne Woche und nähmen Bücher, die das Haltbarkeitsdatum überschritten hätten, in Zahlung. Und! Als Draufgabe bekäme man einen Kalender mit quartalsmäßig wechselnden Häschenmotiven.

Ich wollte nicht.

Wieder zu Hause angekommen, nahm ich mir einen kühlen Orangensaft und setzte mich mit Lolita auf den Balkon. Wir sahen uns einige Minuten lang an, dann regte sich in mir der Revoluzzergeist. Verdammt noch eins! War ich eine Maus oder ein Mann? Oder war ich eine Frau?

Ich kippte meinen O-Saft auf ex, fing einfach an zu lesen und hörte nicht mehr auf, bis ich am Ende angelangt war. Und es ging mir saugut dabei. Es traten auch im Nachhinein keine Beschwerden auf.

Jetzt frage ich mich, ob das Anbringen von Verfallsdaten auf Büchern nicht ein geschickter Marketingfeldzug der Joghurtbranche ist. Vielleicht trifft es auf maschinell produzierte Massenware auch tatsächlich zu, dass sie nach einer gewissen Zeit nicht mehr genießbar ist? Ich weiß es nicht, aber der Gedanke an die möglicherweise zugesetzten, genmanipulierten Inhaltsstoffe ängstigt mich ein wenig. Vielleicht sind die Cover deshalb auch so gerne in Warnfarben koloriert und je nach Schädlichkeitsgrad in den Schubladen einsortiert.

Und wer könnte sich nicht vorstellen, dass ein pinkfarbenes Cover mit grüner Schnörkelschrift, die sich um kaum satinverhüllte Silikonbrüste schlängelt, einige Inhaltsstoffe enthält, die zumindest unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen können?

Wie auch immer. Nabokov hat mir nicht geschadet und ich denke, ich versuche heute mal etwas von diesem Tolstoi, von dem die Haushaltswarenverkäuferin sicher auch abraten würde.

In diesem Sinne: Ein schönes Wochenende.

Simone Keil