Die neue Welt (Erste Staffel)
Als das Internet fünf Jahre alt wurde, rief die ZEIT gemeinsam mit IBM den Internet-Literaturwettbewerb ins Leben. Allein schon die Kooperation zwischen der konservativen ZEIT und Big Blue, dem nicht weniger konservativen, auf Unternehmenssoftware spezialisierten IT-Konzern, war ein Unikum für sich. Der Internet-Literaturwettbewerb stellte nicht nur ein singuläres Ereignis dar, er brachte auch die fiebrige Erregung in den 90er Jahren sinnfällig zum Ausdruck, als das Internet Hoffnungen schürte wie zuletzt die Entdeckung Amerikas. Wie ein noch unbesiedelter Kontinent öffnete das Internet einer Gesellschaft, die gerade erst den bleiernen Ost-West-Konflikt überwunden hatte, neue Horizonte.
Mit dem Internet-Literaturwettbewerb suchten die ungleichen Partner ZEIT und IBM fünf Jahre nach der Geburt des Internets nicht mehr und nicht weniger als den Ulysses des Online-Zeitalters. In seiner Laudatio zum 2. Internet-Literaturwettbewerb schreibt Hermann Rotermund: »Gesucht wird ein originäres Kunstwerk, das Wellen schlägt wie seinerzeit ›Das Leiden des jungen Werthers‹, ›Madame Bovary‹ oder eben ›Ulysses‹, wie ›The Circus‹, ›Der blaue Engel‹ oder ›Citizen Kane«. Der Wettbewerb, der nach zwei Jahren Ulysses-Suche erfolglos eingestellt wurde, entzündete ein kurzes, aber heftiges Strohfeuer der literarischen Avantgarde in Deutschland. Die neuen multimedialen und hypertextuellen Möglichkeiten des Internets riefen geradezu nach einer kulturellen Revolution, nach einem medialen Aufbruch und einer neuen ästhetischen Kunstform, nach Netzliteratur und Hyperfiction.
Die traditionelle Literaturkritik hat den Wettbewerb nicht einmal zur Kenntnis genommen, da er nicht vom Feuilleton der ZEIT ausgeschrieben, sondern in der Rubrik ›Wissen‹ behandelt wurde. Außerdem konnte man die eingereichten Werke nicht ausdrucken und, zwischen zwei Buchdeckel gepresst, ans literarische Quartett schicken. In der Literaturwissenschaft stießen die netzliterarischen Experimente dagegen auf großes Interesse. Im akademischen Elfenbeinturm entstand nahezu zeitgleich mit der Primär- die entsprechende Sekundärliteratur.
Die neue Welt (Zweite Staffel)
Als das Strohfeuer der Netzliteratur erloschen war, stiegen aus der Asche die Blogger auf und führten das gescheiterte ästhetische Experiment als ein soziales fort. Sie schrieben nicht mehr avantgardistisch, sondern suchmaschinenoptimiert. Das Blog wurde zum publizistischen Erfolgsmedium zu Beginn des neuen Jahrtausends. Blogs wurden im Gegensatz zur Netzliteratur tatsächlich gelesen, sie schufen eine Gegenöffentlichkeit und veränderten die politische Landschaft in Deutschland. Netzpolitik wurde plötzlich zu einer Überschrift in den Wahlprogrammen der Parteien und mit der Piratenpartei entstand sogar eine neue politische Kraft, die im Netz geboren wurde. Ein später Wechselbalg von ZEIT und IBM.
Die avantgardistische Netzliteratur und die proletarische Kulturrevolution der Blogs wurden beide von einem starken emanzipatorischen Impetus geprägt. Jeder wird zum Sender! Jeder hat eine Stimme! Das Monopol der Meinungsmedien war gebrochen. Die Zeitungswelt kämpft bis heute verbissen gegen ihren Niedergang an. Aber sie kann ihn nicht aufhalten. In ihrer Verzweiflung heuern sie Blogger für Kolumnen an und beschleunigen dadurch den Identitätsverlust des Mediums. Man schaue sich bloß einmal an, welch völlig divergierenden Meinungen Spiegel Online in der Rubrik ›Die Kolumnisten‹ verbreitet. Hier deutet sich der Wandel vom Nachrichtenmagazin mit klarem politischen Profil zur pseudo-neutralen Plattform an. Mit der politischen Prägnanz des Mediums geht leider auch die Transparenz flöten. Die Meinungsmacher in und hinter den Redaktionen verfolgen ihre Agenda heute sehr viel versteckter und untergründiger als früher.
Die neue Welt (Dritte Staffel)
Zehn Jahre lang lag die Asche der Netzliteratur kalt in der Gegend herum und diente vielleicht den Self-Publishern als Dünger. Etwas Neues entstand. Und wieder stand ein Global Player Pate. Mit seinem preiswerten E-Book-Reader Kindle und den Self-Publisher-Plattformen KDP und CreateSpace hat Amazon die dritte Staffel der Revolutionsserie eingeläutet. An der traditionellen Verlagsbranche vorbei entstehen nun massenweise Bücher und finden ihren Weg zum Leser. Manche werden zu Bestsellern. Der Flaschenhals Verlagslektorat ist verschwunden. Alle Dämme scheinen gebrochen. Heute wird nahezu alles veröffentlicht, was geschrieben wurde. Der Leser sucht sich seine Lektüre selbst heraus. Während die Helden der ersten Staffel bloß mit einigen HTML-Tags bewaffnet auf die Barrikaden gingen, stehen den Protagonisten der dritten Staffel heute ganz andere Technologien zur Verfügung, um sich Gehör und ihren Büchern Erfolg zu verschaffen. Twitter, Facebook, YouTube, Google+ – das Internet ist kein unbewohnter Kontinent mehr. Es ist eine Megacity wie New York, lebendig und chaotisch, mit Wolkenkratzern zugestellt und durchzogen von pulsierenden Straßen und U-Bahn-Linien: »If I can make it there, I’ll make it anywhere!«
Das Bleibende aber stiften die Dichter
Wir wissen nicht, was bleiben wird. In der ersten Staffel waren wir völlig überwältigt von der neuen Welt, in der wir tun und lassen konnten, was wir wollten. Geld und Zugriffszahlen spielten damals keine Rolle. In der zweiten Staffel wurden die Claims abgesteckt, die neue Welt wurde langsam besiedelt und einige Erzeugnisse der neuen Welt fanden ihren Weg in die alte. In der dritten Staffel stieß man dann endlich auf Gold. Die Goldader der Self-Publishing-Plattformen spukte die lang ersehnten echten Nuggets aus. Jeder Mensch ist ein Bestseller-Autor! Der Goldrausch hat begonnen.
Die Mächte der neuen Welt übernehmen die Herrschaft. »Peng, du bist tot«, könnte man der alten Welt zurufen. Doch nun kommt es darauf an, was wir aus unserer Freiheit machen und wie wir uns in der neuen Welt einrichten. Nutzen wir unsere Freiheit, um möglichst viele Leser zu finden oder um das Bleibende zu suchen, was der Dichter stiften soll? Oder fallen diese beiden Extreme heute in Eins? – Doch halt, diese Frage beantworten andere. Wir können heute alles veröffentlichen, was wir schreiben. Und der Leser kann wählen, was er will. Die Leser heute entscheiden über die Bestseller, und die Leser in einhundert oder zweihundert Jahren über das vorläufig Bleibende.