Von René Grandjean
Herr im Himmel, was waren die Neunziger zum Kotzen. Rückblickend betrachtet. Weil, während der Kopf tief im Eimer voll mit Mist steckte, konnte ich das ganze Ausmaß des Schlamassels ja noch nicht sehen.
Sie wollen Beweise? Nichts leichter als das: Eurodance. Für mich ist damit alles gesagt. Falls Sie jetzt denken „aber Dr. Alban fand ich gar nicht so schlecht“, hören Sie bitte auf zu lesen. Hier und heute wird das nämlich nichts mit uns. Auf Wiedersehen. Zugestanden werden mit viel gutem Willen je ein Punkt an Scooter und DJ Bobo für Durchhaltevermögen. Das wäre aber dann auch wirklich alles. P.S. Und Ihr nervt trotzdem.
1992. In die von einschlägigen Medien als Zielgruppe erkannte sogenannte alternative Szene kam Bewegung: Alles, was in den Achtzigern mühsam erarbeitet wurde, um sich von den achselhaarigen, ungeduschten Siebzigern abzugrenzen, wurde in Windeseile über Bord geworfen. Der Grunge-Chic, wir leiden bis heute unter den Nachwehen (sieht scheiße aus? Ist aber sooo bequem. Mir egal, geh nach Hause und zieh Dich um!) war geboren. Bitte merken: Baumfällerhemden sind niemals cool, es sei denn, Sie sind Neil Young oder eben Baumfäller. Ich erinnere mich an Bekannte (nein, Freunde waren wir wirklich nicht), die auf Partys in langen Feinrippunterhosen zu Basketballshorts aufkreuzten. Ihr Pfeifen! Das war er, der Grunge-Look. „Papa, ich lege mich in die Auffahrt, fährst Du bitte kurz mit dem Wagen über mich drüber?“
Der Urheber allen Übels war, wie jeder weiß, Kurt Cobain. Zu beschreiben, mit welcher Raffinesse er den Sound seiner Band Nirvana aus Versatzstücken der Rockgeschichte puzzelte, zufällig oder geplant sei dahingestellt, würde hier und jetzt den Rahmen sprengen (Siehe dazu The Beach Boys, Sonic Youth, Mudhoney). Kurts Andenken zu beschmutzen liegt mir fern. Der Mann war smart, kreativ, eigen. Es war auch höchste Zeit, dass jemand dem Rock eine neue, frische Note hinzufügt (Wortwitz bemerkt?). Der Hair-Metal der Achtziger, der sich irgendwie aus Glamrock und Co. entwickelt hatte, war zu einer Karikatur seiner selbst geworden (Siehe Twisted Sister, also echt jetzt mal …). Warum allerdings mit den Siebzigern ein Jahrzehnt beerbt wurde, das erst zehn Jahre zurücklag, bleibt mir rätselhaft. Waren die Achtziger aus pastellfarbenem Plastik modelliert, so wurden die Neunziger aus wurmstichigem Holz geschnitzt. Jung, unverdorben und auf der Suche nach Zugehörigkeit erlag auch ich der Verlockung, Teil einer Bewegung zu werden, die keine war. Ab 1992 schlurften wir, ein Heer ungepflegter nihilistischer junger Leute, die alles hatten außer Zukunft, durch eine Welt, die nicht mehr den atomaren Overkill fürchtete, sondern dass die 24h-Tankstelle, wo es Bier gab, an Heiligabend geschlossen blieb. Ja, wir waren unstylische Trottel in der Gewalt amerikanischer Waldarbeiter. Doch Rettung nahte, und wie immer kam sie von der Insel des Pop, dem Mutterland der Musik, dem Königreich der Kreativen. Dank den Befreiern, ein dreifach Halleluja und herzlich willkommen, Great Britain.
Oasis kamen aus dem Nichts.
„I’m free to be
Whatever I, whatever I choose
And I’ll sing the blues if I want”
Den Blues singen wollte ich nie, aber wählen, was man sein will, das klang gut. An jenem Abend in der Dorfdisco, in der die Boxen die Form von Elefanten hatten, wusste ich nicht, wer mir diese Zeilen mit bis zum Reißen gedehnten Vokalen auf unvergleichliche Art ins Ohr bölkte. Liam Gallagher, der größte Lad von allen, und der Mann, der in den nächsten Jahren so vieles tun sollte, was ich mich nie gewagt hätte (Pöbeln, prügeln, auf die Kacke hauen) trat in mein Leben. Die schnöden Fakten zur unbeschreiblichen Karriere dieser Band sind allgemein bekannt, und es ist Sache der Musikjournalisten, davon zu berichten. Ich möchte mich hier nur in Nostalgie wälzen. Mich erinnern an Nächte, in denen ich aus dem Rose-Club volltrunken ins Stereo Wonderland torkelte, wo wirklich jeder auf Bar oder Tisch stehend die Faust in die Luft reckte und „You and I we gonna live forever“ sang. Tanzen zu Oasis sieht scheiße aus, aber echte Männer tanzen sowieso nicht, und für solche spielen die Jungs aus Manchester. Es soll Typen geben, die sich aus purer Begeisterung kameradschaftlich aufs Maul hauen, während sie Oasis hören. Das wäre meine Sache nicht, ich bin eher der sensible Typ, aber das ist okay, denn der kriegt am Ende ja immer das Mädchen. Ich schweife ab. Zunächst warf das Auftauchen von Oasis mich in eine schwere Identitätskrise. War ich jetzt ein schwarz gekleideter Grunge Rocker mit Gothic Background oder doch eher ein Indie Brit Popper mit New Wave Wurzeln? Diese Frage konnte ich nicht final klären, bevor sie an Relevanz verlor und ich mich wieder der Pre-Grunge Popkultur verschrieb. Doch damals, Mitte der Neunziger, als Tocotronic durchblicken ließen, dass sie Pearl Jam nicht mögen, ich feststellte, dass lange Haare keinen Eddie Vedder aus mir machen (mein Führerscheinfoto beweist das), stand ich am Scheideweg. Sie ahnen es, ich entschied mich richtig und ging zum Friseur.
Wo meine Pearl Jam Alben im Schrank vor sich hinstauben, ziehe ich Oasis heute noch in vielen wichtigen Lebensfragen zurate. Das auch deshalb, weil ihre Texte in ihrer vollendeten Unverbindlichkeit in jeder Situation Trost spenden. Don’t look back in Anger. Stimmt, führt zu nichts. Tonight I’m a Rock’n’Roll Star. Yeah, für mich auch noch ein Becks. I was looking for some action but all I found was cigarettes and alcohol. Du sprichst mir aus der Seele, Liam.
Ich weiß noch, dass ich süchtig war nach Wonderwall, bis ich erfuhr, das dieser Songs echten Fans nichts bedeutet, weil er gar nicht richtig Oasis ist. Beim Konzert lief der dann auch nur aus der Konserve, als am Schluss das Licht in der Philipshalle anging. Viel zu cool wieder. Die typischen Gitarrenwände, die auf den Alben immer etwas unmotiviert geschrammelt klingen, entfalten übrigens live ihre infernale Wirkung (tun weh, bereiten aber trotzdem Freude. Komisch.) Freuen wir uns also auf die Comeback Tour.
1998 benannte Benjamin von Stuckrad-Barre, der alte Fuchs, jedes Kapitel seines Debüts Soloalbum, das Buch, das für mich die Popliteratur in Deutschland etablierte (auch wenn Faserland früher erschien, das war nur Yuppie-Dreck), nach einem Oasis Song. Geniestreich.
Warum mir all das wieder einfällt? Zum einen beglückt der Sender Arte uns aktuell mit dem Summer of the 90s, und als bei Promi Big Brother (Hubert Kah!) Werbung lief, zappte ich zufällig in ein Oasis Konzert. BAM! Bevor ich überhaupt wusste wie mir geschieht, stand ich auf dem Sofa, in einer Hand ein Bier, die andere zur Faust geballt zur Zimmerdecke gestreckt, und grölte mir die alten Lungen wund. Zum anderen traf ich letztes Wochenende zufällig einen Großteil der Leute wieder, mit denen ich die Neunziger verbrachte. Es hat mich überaus gefreut, festzustellen, dass das Leben es bis hierhin gut mit uns meint. Alle schienen geduscht, und ein Baumfällerhemd konnte ich auch nicht entdecken. Friss das, Eddie Vedder!
Abschließend die Frage: Blur oder Oasis? Der Blick ins Regal offenbart es: Ich finde einmal Blur (The Great Escape, bestimmt nicht die beste Wahl), von Oasis hingegen bis auf das finale Dig out your Soul jede offizielle Veröffentlichung. Frage beantwortet.
Was ich eigentlich sagen wollte: Thank you for the music! Was, falsche Band? Was wissen Sie denn?