von Martina Bauer
Es gibt badische, und es gibt unsymbadische, sagt man in Baden-Württemberg. Das gilt auch für die Protagonisten in Büchern. Die Hauptfigur ist das Herzstück des Romans und mindestens so wichtig wie die Geschichte selbst, wenn nicht sogar noch mehr. Also spielt es eine nicht unbeträchtliche Rolle, dass es der Figur gelingt, den Leser um den Finger zu wickeln und ihn an das Buch zu fesseln.
Nun sind nicht alle Hauptfiguren nett und sympathisch. Der Labrador Marley aus „Marley und Ich“ ist ein erziehungsresistenter, nerviger Tollpatsch, der das Leben einer ganzen Familie sowie deren Umfeld auf den Kopf stellt; trotzdem sabbert er sich mühelos in die Herzen der Leser. Der geistig zurückgebliebene Blaze in Stephen King’s „Qual“ entführt ein Baby; trotzdem drückt man verzweifelt die Daumen, dass Blaze ungeschoren davonkommt und mit dem kleinen Jungen zusammenbleiben darf. Und Jean-Baptiste Grenouille aus „Das Parfüm“ oder Oskar Matzerath mit seiner Blechtrommel? Stellt euch mal vor, das wären eure Söhne. Gott bewahre!
Trotzdem fliegt der Leser durch die Seiten dieser Bücher, fiebert mit. Im realen Leben würden wir um solche Personen oder Tiere einen riesengroßen Bogen machen.
Wie schaffen es diese Figuren also, unser Interesse zu wecken?
Ich schreibe Thriller. In jedem meiner Romane steht eine Figur im Mittelpunkt, deren Leben unmittelbar bedroht wird, und die noch dazu in einer schlimmen Zwickmühle steckt. Zumeist sind es freundliche Menschen, die ohne eigenes Zutun in diese schwierige Situation geraten sind, so dass es dem Leser nicht allzu schwer fällt, um ihr Leben zu bangen und zu hoffen.
Bei meinem aktuellen Romanprojekt ist das anders. Ich tat mich von Anfang an recht schwer mit dem Manuskript und wusste nicht genau, woran das lag, denn vom Plot war und bin ich überzeugt. Bei Normseite hundert entschloss ich mich zu einer Pause. Nach einigen Wochen nahm das Manuskript wieder auf, um festzustellen:
Mein Prota ist – Entschuldigung – ein Arsch.
Nun mag ich meinen Prota natürlich richtig gerne. Habe ich ihn doch selbst erschaffen, mit allen seinen Fehlern und Macken, von denen es eine ganze Menge gibt. Denn nur eine blasse Hauptfigur ist schlimmer als eine unsympathische. Und weil ich den weiteren Verlauf der Geschichte im Kopf habe und das Ende weiß, ist mir auch klar, dass er eigentlich einer von den Guten ist. Nur der Leser, der weiß das auf den ersten Seiten natürlich nicht, und er wird mir das Buch um die Ohren hauen. Wenn es überhaupt einer liest. Denn ein unsympathischer Prota geht dem Leser ganz schnell auf die Nerven.
Wie haben es Blaze und Marley nur geschafft, sich eine riesige Fangemeinde aufzubauen?
Ein Autor lernt nie aus. Jedes Buch ist eine neue Herausforderung. In meiner Geschichte ist es eben dieser Protagonist Tom, der mich ins Schwitzen bringt. Tom ist eigentlich ein netter Kerl, aber schon wegen seiner kleinkriminellen Vergangenheit werden ihn einige ablehnen. Aber jetzt kommt’s: Eines Tages findet Tom beim Joggen im Wald die Leiche einer jungen Frau, die kurz zuvor als vermisst gemeldet wurde. Anstatt die Polizei zu rufen, entwendet Tom die Leiche, um sie für eigene Zwecke zu nutzen … So etwas tut nun mal kein Mensch, den man vorbehaltlos ins Herz schließt.
Nun will ich aber, dass meine Leser den Tom mögen. Auch wenn er sich reichlich daneben benimmt. Mir steht harte Arbeit in Sachen indirekte Charakterisierung bevor.
Also muss ich behutsam den Leser dahin führen, wo ich ihn haben will. Eine schlichte Erklärung, dass Tom dringend Geld für eine gute Sache braucht, reicht hier nicht aus. Vor seinem geistigen Auge muss der Leser einen einsamen jungen Mann sehen, der verzweifelt etwas Gutes tun will, aber durch widrige Umstände den völlig falschen Weg erwischt, und das nicht nur einmal. Dafür muss ich als Autorin in diesen Protagonisten hineinschlüpfen wie ein Schauspieler. Muss mir vorstellen, ich hätte sein Leben gelebt und wäre in seiner Situation, damit ich den Leser auf die richtige Fährte führen kann. Denn Tom hat wahrhaftige Gründe für sein Tun, die es glaubwürdig zu vermitteln gilt. Der Leser muss glauben, dass er an Toms Stelle genauso gehandelt, und die Leiche entwendet hätte, weil es in dieser speziellen Situation die einzig denkbare Lösung sei.
Der Leser darf in diesem Roman nicht mit der toten jungen Frau sympathisieren, sondern mit ihrem Entführer. Er muss Tom vor sich sehen, wie er liebevoll die Fassade seines alten, heruntergekommenen Häuschens streicht. Die Rückblenden mit seiner zwischenzeitlich verstorbenen Mutter, die er zuletzt gepflegt hatte. Seine Existenzangst, sein Wunsch nach einer Familie, nach innerem Frieden und Harmonie. Das kann ein Autor nicht einfach aufschreiben, es wird zwischen den Zeilen stehen.
Wenn mir der Leser das abnimmt und Tom trotz allem irgendwie leiden mag, dann ist meine Hauptfigur gelungen.