von Elsa Rieger
Ein Lektor ist wie ein Leibarzt, denn er zieht den „Patienten“ – den Text – nackt aus, um den Körper zu verstehen. Zu verstehen, was zwischen den Buchstaben und Zeilen steht. Dann erst sieht und hört er das Herz eines Textes klopfen.
Ich weiß, dass das für jeden Autor eine Entblätterung bedeutet. Ich greife schließlich mit der kritischen Beäugung sein Allerheiligstes an: arbeitsreich formuliertes Gedankengut. Und ich kann das sehr gut verstehen, schließlich schreibe ich selbst und empfinde kritische Lektorate manchmal als unangenehm oder gar übergriffig, was natürlich eine absurde Reaktion des Egos ist. Man fühlt sich in der Eitelkeit gekränkt, der Stolz wird verletzt. Es ist, wie man psychologisch sagt: Eine narzisstische Kränkung, die einen überflutet.
Sein Manuskript Beta-Lesern, die aus dem familiären und freundschaftlichen Umfeld stammen, für eine erste Beurteilung zu überlassen, ist die leichtere Übung, denn diese Leser sind uns wohlgesonnen und daher meist begeistert von unserem Text. Da finden sich nur wenige, und wenn, dann ganz liebevoll genannte Kritikpunkte, die der Autorin, dem Autor zugetragen werden.
Ein Lektorat hingegen ist eine andere Liga. Da werden – wie ich oben erwähne – Nägel mit Köpfen gemacht, Butter bei die Fische gegeben und was auch immer Sie noch an Phrasen fürs ans Eingemachte gehen kennen.
Als ich begann, nach fast 3 Jahrzehnten des eigenen Schreibens, Lektorate anzubieten, war ich überaus behutsam beim Entblättern eines Textes, ich hatte Sorge, die Autorin, den Autor zu verärgern, zu kränken, zu entmutigen. Heute bin ich etwas brutaler geworden, wie ich zugebe, und ziehe den Text wirklich komplett aus. Meine Textschützlinge danken es mir, wenn ich sie untertauche und erstehen aus dem Bad wie neugeboren.
Wie ich vorgehe? Nun, zuerst befreie ich das Manuskript schlicht und einfach von Grammatikfehlern, denn ich kann heutzutage einfach keine Geschichte erfassen, wenn die Kommata falsch sind, die dass/das, die Fälle (speziell Genetiv und Dativ) nicht stimmen und Sätze holpern. Ich bin dann nicht in der Lage, bei derartigen Fehlern den Inhalt lesen zu können. Das heißt nicht, dass ich die Nummer 1 bezüglich Korrektorat bin, ich bin Lektorin, aber selbst bei Büchern aus großen Verlagen fallen mir einfach solche Fehler auf, was mein Lesevergnügen empfindlich stört. Bei meinen eigenen Texten übrigens nicht, Textblindheit!
Nachdem ich das Manuskript auf diese Weise für mich lesbar gemacht habe, kann ich mich auf die Geschichte konzentrieren. Oft tauchen auf dem Weg durch den Text Fragen auf, die ich in Kommentaren für die Autoren formuliere. Immer wieder begegnen mir Sätze, die holpern, unklar formuliert sind, nichts mit der momentanen Szenerie zu tun haben, nur dort stehen, weil sie dem Autor gefallen, das muss weg, weg, weg. „Kill your darlings“ heißt es in Literaturkreisen, denn diese Lieblingsformulierungen sind meist unpassend. Das macht AutorInnen oft traurig, aber was muss, muss, weg damit.
In Runde 2 der Arbeit, nachdem das (hoffentlich) nach meinen Vorschlägen korrigierte Manuskript an mich zurückgereicht wird, konzentrieren wir uns gemeinsam auf den Aufbau. Sind die Figuren nachvollziehbar, ihre Charaktere in sich schlüssig, farbig, spannend?
Bringen alle Szenen die Geschichte weiter, dienen sie der Gesamtheit, oder stehen sie nur da, weil sie der Autor schön findet (kill your darlings)?
Wie wird erzählt? Wird gezeigt, was passiert oder nur behauptet, dass was passiert? Regel: Show, don’t tell! Zeige, was los ist, denn es behaupten, kann jeder.
Dann bekommt der Klient, die Klientin den Text wieder, um die fraglichen Sequenzen zu bearbeiten, zu ergänzen, zu verdeutlichen, komplett umzuschreiben; je nach dem.
Die 3. Runde zieht dem Text endgültig neue Kleider an.
Die ergänzten Textstellen werden nochmals betrachtet, eventuell korrigiert, das ganze Manuskript wird erneut durchgelesen, Kleinigkeiten ausgemerzt. Dann wird es als sauberes Dokument dem Autor, der Autorin überreicht, die/der überglücklich ist, wie die Lektorin hofft.
Es gibt ein QInterview mit Elsa Rieger. Sie betreibt außerdem eine Homepage, eine Lektorats-Homepage und eine Facebookseite.
Danke für die Anregungen 🙂
Ich sehe den Begriff „Betaleser“ etwas weiter. Bei FFs nimmt man oft Betaleser, und das sind keineswegs Freunde, das sind Menschen, die man aus einem Forum kennt. Und auch Betaleser sind nicht immer nett und weisen zärtlich auf Fehler hin. Ganz im Gegenteil: Sie tun das sachlich und entweder drücken sie es nett oder neutral aus.