Von der Scham, vegan zu leben

Von Jürgen Gerdom

Meine Entwicklung vom Allesesser zum Vegetarier zum Veganer verlief schnell und unspektakulär. Das ist so eine Geist-aus-der-Flasche-Situation; hat man einmal emotional den Zusammenhang zwischen eigenem Konsumverhalten und Tierleid hergestellt, so lässt sich das nicht mehr ignorieren. Will sagen: Das ist viel mehr eine Gefühlssache, ein Be-greifen, als eine Frage der Information, die hatte ich im Prinzip auch vorher schon.  Das Leben ist danach ein wenig komplizierter, weil die Konsumangebote nur partiell auf diese Beschränkung ausgerichtet sind, aber dramatisch ist das nun auch nicht, jedenfalls lösbar.

Kolumne Baby SchweinNun aber. Habe ich den Reflex, der Vegetariern und Veganern mindestens latent unterstellt wird, andere zu missionieren, gar zu verurteilen ob ihres Konsums tierischer Produkte? Was für ein Unfug, wie könnte ich das denn, nachdem ich mich fünfzig Jahre, mithin 96 % meines bisherigen Lebens ebenso verhalten habe? Habe ich aber den Wunsch, mein eigenes Aha-Erlebnis anderen zu vermitteln, auf die Hintergründe hinzuweisen, Informationen dazu zu teilen? Ja, sicher habe ich das. Das wäre auch kein Problem, wäre meine Message des Inhalts, Android funktioniere besser als iOS, irgendein Hersteller greife auf Kinderarbeit zurück, Flugreisen verursachten Umweltschäden oder ich fände Katzen ganz süß.  Da bekomme ich auf Facebook mehr Likes dafür, als ich Freunde habe.

Spreche ich aber darüber, wie und warum unser Konsumverhalten mitverantwortlich ist für unaussprechliches Tierleid in gigantischem Ausmaß und wie leicht das vermeidbar ist, dann schlägt mir eine Welle von Ablehnung entgegen, und zwar auf der ganzen Bandbreite von unterschwellig bis offen aggressiv. Weshalb ist das so? In meinem Alltag ist es inzwischen so, dass manchmal Menschen fragen: Oh, du isst kein Fleisch? Dann erkläre ich zwar kurz, dass es mehr ist als das, aber es ist mir unangenehm, denn ich weiß schon, welche unfruchtbaren und zumeist dummen Diskussionen sich höchstwahrscheinlich anschließen. Und ich verstehe es nicht. Sage ich, um wahllos ein Beispiel zu nennen: Ich habe mein Auto verkauft und fahre jetzt Fahrrad oder Bus, weil ich die Umwelt nicht verschmutzen will, dann werden die allermeisten sinngemäß antworten: Boah, könnte ich nicht, finde ich aber toll. Fertig. Keine Aggression, im Gegenteil, sogar Zuspruch. Noch einmal: Weshalb ist das so? Liegt es womöglich auch daran, dass die objektiven Gründe für die Unverzichtbarkeit des individuellen Verkehrsmittels in den meisten Fällen so zwingend sind? Dass ich mit Fug und Recht sagen kann: Was der tut, ist gut, aber ich kann es leider nicht? Und im Umkehrschluss, liegt die tendenziell aggressive Reaktion auf Veganer womöglich genau darin begründet, nämlich in der Ahnung, man könnte das selbst eigentlich auch tun, wolle es bloß nicht aus Gewohnheit und Bequemlichkeit? Kommt daher die reflexhafte Verteidigungshaltung?

Die tierverarbeitende Industrie, also vor allem Nahrung/Pharma/Kosmetik, ist die umsatzstärkste und profitreichste der Welt. Sie gibt sehr viel Geld für Desinformation der Konsumenten und die Rufschädigung der Tierschützer aus – sehr, sehr viel. Das Ergebnis dessen ist, neben einer gehirngewaschenen Gesellschaft (ich darf das sagen, ich gehörte 96 % meines bisherigen Lebens dazu) ein tagtägliches, globales Auschwitz für Tiere. Albert Einstein hat gesagt, wir könnten die Welt nur retten, wenn wir aufhören, Tiere zu töten. Die wenigsten, glaube ich, haben verstanden, von welch großen Zusammenhängen er da sprach. Ich bin sicher, wir werden das eines Tages überwunden haben, so wie die sog. Rassentrennung  oder die Sklaverei, aber der Weg dorthin ist steinig für all die, die aufklären möchten.

Mein Wunsch an die, die veganen Themen begegnen und instinktiv in den Verteidigungsmodus geraten: Bitte fragt euch einmal, warum euch das so geschieht. Oder, falls euch das zu anstrengend ist: Ignoriert es einfach. Das klappt doch bei anderen Themen auch.

Jürgen Gerdom

 

2 Replies to “Von der Scham, vegan zu leben”

  1. Manuel

    Nur der Vollständigkeit halber: Busse und Fahrräder verschmutzen auch die Umwelt — erstere durch ihre (zumeist) Dieselmotoren, und zweitere im Zuge ihrer Herstellung. (Ach so: Auch Busse werden hergestellt, verschmutzen also doppelt. 😉

  2. Valentin

    Bei mir verhält es sich fast umgekehrt, also mit den 96%. Auf dem Heimweg vom Kindergarten war da die Kuh und das Schlachthaus, und dann ging es einfach nicht mehr (außer mit meiner Lieblingswurst, da konnte ich mich noch ein paar Jahre belügen). Aber ein guter Freund hat einen viel besseren Grund gefunden, und zwar zu Studienzeiten: In der Mensa standen die schöneren Frauen in der Vegetarierschlage 🙂