Von René Grandjean
Meiner war am Freitag. Ich stehe allein auf einem menschenleeren Platz in dem Dorf, das ich Heimat nenne, vor einer Kneipe, in der meine Familie einen runden Geburtstag begeht. Der Kirchturm ragt wie der mahnende Zeigefinger des Ortes in den blauen, nahezu wolkenlosen Himmel. Ein Schwarm Krähen fliegt laut krächzend über mich hinweg und landet auf dem Giebel eines Hauses. Den kopfsteingepflasterten Marktplatz zieren schwere, steinerne Blumenkästen und eine alte Pumpe, massive Holzbänke und Tische, die zum Verweilen einladen sollen, mannshohe nackte Bäume und historische Laternen, die so früh am Tag noch nicht leuchten.
Ich ziehe an meiner Camel, fühle mich wie der gealterte Antiheld aus einem John Hughes Film, der nach Jahren nach Hause zurückgekehrt ist, als mir etwas Interessantes auffällt:
Ich stehe mit dem Rücken zum Eingang der Kneipe. Vor mir liegen ca. zwanzig Schritte Markplatz, dann ein tunnelartiger Durchgang durch ein Wohnhaus, an den sich der Kirchplatz mit seinen krüppeligen, hohlen Bäumen anschließt. Ginge ich durch den Tunnel, dann stur weiter geradeaus, ließe die Kirche hinter mir, den Kirchplatz, das Kriegerdenkmal, das Pfarrhaus, führten meine Schritte mich auf einen schmalen Weg zwischen Sparkasse und Jugendheim direkt vor das Tor des Friedhofes. Alles auf einer geraden Linie, die ein Seiltänzer mit verbundenen Augen entlang balanciert wäre. Nicht genug der Symmetrie könnte ich das schwere, quietschende Tor passieren, immer noch ungehindert weiter geradeaus zwischen den Gräbern meines Weges gehen, der mich an den Fuß eines künstlichen Erdhügels führen würde, auf dem ein großes Kreuz mit einem leidenden Jesus thront, das am Abend sogar beleuchtet wird. Ich könnte also, wenn eines Tages die unvermeidliche Stunde schlägt, an der Theke der Kneipe den letzten Schnaps, ein Bier oder ein anderes Getränk meiner Wahl in aller Seelenruhe austrinken, bezahlen oder nicht – das wäre in diesem besonderen Fall tatsächlich abzuwägen, weil ich unter normalen Umständen garantiert nicht wiederkäme – und mich geradewegs auf den Friedhof begeben. Aber okay, nur weil der jetzt räumlich so günstig liegt, müssen wir nichts überstürzen. Zurück zu meinem magischen Moment.
Meine Familie feiert heute einen siebzigsten Geburtstag. Das ist kein biblisches Alter, aber immerhin! Ich bin dankbar, dass wir im engsten Familienkreis vollzählig wie auch mehr oder weniger gesund sind. Eben hat mein Bruder auf der Gitarre einen alten Schlager von Ted Herold gespielt, meine Eltern haben zwischen ihren Gästen dazu getanzt. Das hat mich gerührt und an früher denken lassen. Ich bin jetzt schon zehn Jahre älter als mein Vater war, als ich zur Welt kam. Dass die Zeit mit zunehmendem Alter schneller vergeht, kann ich nicht finden. Ich halte es da mit Ferris Bueller: Das Leben bewegt sich sehr, sehr schnell. Wenn du nicht gelegentlich anhältst und dich umschaust, könntest du es verpassen. Das ist so wahr, wie es platt ist. Ab und zu halte ich inne und rufe mir ins Gedächtnis was ich alles getan habe im Zeitraum X. Das war in der Regel vieles, dann weiß ich, wo die Zeit geblieben ist: Ich habe sie verwandelt in Texte, Bücher oder Lieder, die ich schrieb. Dennoch vergeht sie, wie sie will und oft genug macht mir das zu schaffen.
Dinge sind kostbar, weil sie selten sind. Zeit ist unbezahlbar, weil sie vergeht.
Augenblicke werden magisch, weil sie kommen und vergehen. Magie passiert einfach. Sie lässt sich forcieren, aber erzwingen lässt sie sich nicht. Das unterscheidet sie von ihrer kleinen Schwester, der Romantik. Die bekommen Sie schon mit Kerzenschein und Blumen rum (aber ich mag sie trotzdem). Die Magie lässt sich einfangen. Es ist möglich, ihre Essenz in Liedern oder Wörtern zu speichern. Ich greife zurzeit oft zurück auf eingemachte Gefühle und konservierte Erinnerungen, verstärkt in der Form alter Songs und Filme, und ich vermute, das liegt daran, dass ich mich meinem vierzigsten Geburtstag nähere. Würden Sie mich fragen, wie es mir damit geht, ich würde ehrlich antworten wollen, dass alles cool ist. Leider muss ich widerstrebend einräumen, dass das nicht stimmt. Vierzig werden jetzt die Fünfzigjährigen raunen, vierzig ist doch kein Alter. Da haben Sie selbstverständlich recht, wenn man es aus Ihrer Nische der Welt betrachtet. Befragen Sie mal einen Zwanzigjährigen zu diesem Thema, um zu sehen, wie unterschiedlich die Wahrnehmung von Alter und Zeit ist. Ich selbst war lange davon überzeugt, dass mit siebenundzwanzig abzutreten mein Schicksal wäre, wie es viele meiner unwesentlich erfolgreicheren Musikerkollegen taten.
Das Ende der Straße, auf das wir uns alle zubewegen, macht mir Angst. Veränderungen machen mir Angst. Der Gedanke, die zu verlieren, die ich liebe, macht mir Angst. Das ist traurig, und ich möchte mich gleich entschuldigen, dass ich Sie damit behellige. Um die Brücke zu schlagen: Die Zeit war es, die mich als jungen Mann in die Welt hinaustrieb, die Zeit ist es, die mich nach Hause zurückbrachte. Die Erkenntnis, dass ich so vergänglich bin wie jeder und jedes, traf mich mit Anfang dreißig mitten in die Fresse. Das war gut und wichtig und brachte mich denen näher, die ich liebe. Weil sie nicht ewig auf mich warten werden.
Erlauben Sie, dass ich mich an dieser Stelle selbst zitiere:
Der Ort, an dem du deine Kindheit verbracht hast, ist ein Minenfeld aus Erinnerungen. Es gibt keinen Stein, keine Wurzel, kein gestelltes Bein, über das du nicht schon mal gestolpert bist. Jeder tief hängende Ast hat dir schon mal ins Gesicht geschlagen. Mit etwas Glück hast du eine Narbe davon getragen. Sie ist ein verschworenes Symbol, ein Tattoo, ein geheimes Erkennungszeichen, das dein Zuhause dir mit auf den Weg gegeben hat. Wenn du in den Spiegel blickst, ganz egal, wo auf der Welt du dich gerade aufhältst, und du siehst das Zeichen auf deiner Haut unter dem Auge, bist du vielleicht für einen Moment wieder ein wenig zu Hause. Für einen kurzen Augenblick, in dem dir ein wohliger Schauer über den Rücken läuft und du nicht mal genau verstehst, warum.
Der heiße Asphalt, der in der Sommerhitze zu flimmern scheint. Die mittägliche Stille, die dich umfängt wie ein samtener Vorhang. Essensduft, der aus gekippten Fenstern schwebt. Der blaue, wolkenlose Himmel. Keine Autos fahren. Hier gibt es sie noch, die Mittagsruhe der Seele. Die Vögel – du siehst keinen Einzigen, hörst sie nur –, die mit ihrem Gesang in den Hecken und dichten Baumwipfeln ihr Revier markieren.
Du erkennst sogar das Licht, sein Spiel. Weil es an diesem Punkt der Zeit und wahrscheinlich sogar des Universums einzigartig ist. Und du bist hier, nirgends sonst, und die Sonnenstrahlen treffen nach ihrer langen Reise durchs Vakuum des Weltalls in einem bestimmten Winkel auf die Atmosphäre, werden absorbiert und gestreut, und scheinen auf dich herab. Nur so ist das nur hier. Und nur du siehst es so, siehst das satte Grün der Blätter, weil die Evolution entschieden hat, dass die Pflanze diese Wellenlänge nicht brauchen kann. Und es ist egal, wie eng dir dein Zuhause manchmal erscheinen mag. Auch wenn die Häuser dich des Nachts kritisch zu beäugen scheinen, aus mit Rollladen halb verhüllten Fenstern, in denen sich das Laternenlicht bricht, sodass sie funkeln wie Kiesel im Mondlicht. Auch wenn sie mit den Jahren enger zusammenrücken, um dir den Weg hinaus zu versperren – ihr kennt euch und seid per Du. Sie haben dich aufwachsen sehen. Du siehst, wie der Zahn der Zeit sie langsam zermahlt. Das blüht dir auch, mein Freund! Aber noch nicht jetzt. Denn jetzt wird Mittagessen aufgetischt. Und da spricht man nicht vom Tod. Blumenkohl und Kartoffeln. Und Fleisch, sonst ist es gar kein Essen. Spargel nur in den Monaten mit i. Und weil um diese Zeit im Fernsehen noch kein Programm gesendet wird, kann man sich ja auch gleich unterhalten. Darüber, wie der Tag bis zu diesem Augenblick so gelaufen ist.
Es ist nirgends besser als zuhause. Wenn dem so ist, verdammte Scheiße – wo ist es denn bloß, dieses Nirgends?
Diese Szene aus meinem Roman „Make new Memory oder wie ich von vorn begann“ beschreibt einen dieser kostbaren Momente. Wahrscheinlich ist es eine Melange aus vielen Erinnerungen, die in meinem Kopf ineinandergeflossen sind. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Zeit sie vergoldet hat. Das kann sie nur, weil sie vergeht und vieles mit sich nimmt, als schwämme es flussabwärts, raus ins Meer und unwiederbringlich von uns fort. Jedoch stehen wir diesem Verlust nicht mit leeren Händen gegenüber. Wir können in Gedanken immer wieder zurückkehren.
Die gerade Linie zwischen Leben und Tod, Freude und Leid, Kneipe und Friedhof, auf der wir balancieren. Darum konnte der Moment am Freitag ein magischer werden.
Herrje. Amen!