Guy Lacroix: Auf der Jagd nach dem Rosenkranzmörder #1 [Clockwork Cologne]

Guy Lacroix Fall 1 BeitragsbildFuchs hatte gute Arbeit geleistet. Ohne seinen unermüdlichen Einsatz hätten sie den Wechselbalg, wie die Presse den Verbrecher getauft hatte, nicht in dieser kurzen Zeit dingfest machen können. Guy Lacroix schüttelte die Hand des frischgebackenen Kommissärs. „Gute Arbeit, Fuchs. Ich gratuliere zur Beförderung.“

„Danke, Herr Kommissär.“ Fuchs deutete eine Verbeugung an. „Ich durfte vom Besten lernen, der Ruhm gebührt also Ihnen.“

Lacroix winkte ab. „Am Ende zählen nur Erfolge. Und ich hatte meine Stücke vom Ruhm.“ Er klopfte sich auf den leichten Bauchansatz. „Wahrscheinlich zu viele davon. Nun verschwinden Sie schon, Ihr Dienst ist beendet und Sie wollen sicher noch feiern. Also, Abmarsch, das ist ein Befehl. Wir sehen uns morgen zur Einsatzbesprechung am Frachthafen.“

Fuchs schlug die Hacken zusammen und stürzte den Rest seines Champagners herunter. Er reichte Fräulein Schiermann das leere Glas, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor er lachend zum Ausgang eilte.

Die Sekretärin errötete. „Frecher Lümmel“, murmelte sie und räumte summend die leeren Gläser zusammen.

Guy sah Fuchs nach und schüttelte leicht den Kopf. Ungestüme Jugend. Aber Fuchs war ein fähiger Polizist, in fünf, sechs Jahren konnte er Hauptkommissär sein.

„So, dann wären nur noch wir beide übrig. Die alte Garde, sozusagen.“

Lacroix drehte sich um. Er hatte gar nicht bemerkt, dass Molter noch anwesend war. „Alte Garde und bald altes Eisen“, antwortete er und schenkte Molter den Rest aus der Flasche ein. Dann legte er ihm die Hand auf die Schulter. „Machen Sie sich nichts draus, beim nächsten Mal sind Sie an der Reihe.“

Molter nippte an seinem Glas und nickte langsam. „Ja, sicher.“ Dann ging er ans Fenster und sah in den Hof hinaus.

Lacroix betrachtete den gebeugten Rücken des Assistenten. Er wusste, dass es für Molter kein nächstes Mal geben würde, und Molter wusste es auch. Der Mann war zuverlässig, immer bereit Überstunden zu machen, wenn es nötig war. Aber ihm fehlte der Biss, Intuition, der richtige Riecher, das, was einem Polizeibeamten im Blut liegen musste. Deshalb war er immer noch Assistent und würde es für den Rest seiner Dienstjahre auch bleiben.

Guy sah auf seine Taschenuhr. Wenn er zu spät nach Hause käme, würde Hedwig ihn teeren und federn. Er hatte versprochen, pünktlich zu sein.

Er nahm seinen Mantel vom Haken und setzte den Hut auf. „Es wird Zeit für mich, Molter. Wir sehen uns morgen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er den Raum.

Molter starrte noch einige Minuten aus dem Fenster, dann stellte er das halbvolle Glas ab und ging in das Büro der Assistenten, setzte sich an seinen Schreibtisch, entzündete die Lampe und nahm eine der Akten von dem Stapel. „Guter Molter“, murmelte er. „Machst Überstunden, kümmerst dich um die Ablage der Herren Kommissäre. Braver Molter.“

Als Fräulein Schiermann die Lichter löschte und ihm beschwingt einen guten Abend wünschte, hob er nicht einmal den Kopf. Er hatte viel zu tun. Und er hatte Zeit, niemand wartete auf ihn. Niemand wartete auf den guten, alten Molter. „Dummer alter Mann“, sagte er und nahm den nächsten Ordner vom Stapel.

 

Guy Lacroix ging die wenigen Blocks zu Fuß nach Hause. Der Abend war lau. Er atmete tief ein. Kaum Ruß in der Luft und es roch nur schwach nach Rauch. Fast wie früher. Er erinnerte sich an die Tage, als die Welt noch in Ordnung gewesen war, noch kein Schutzschild die Stadt vor der Strahlung schützen musste. Das war lange her, die Zeiten hatten sich geändert, die Menschen hatten sich mit ihrem Schicksal arrangiert. Was man nicht ändern konnte, musste man akzeptieren.

Frau Lehmann winkte ihm zu. „Einen guten Abend, Herr Hauptkommissär“, rief sie fröhlich.

Lacroix griff an die Krempe seines Hutes und nickte der Blumenfrau zu. „Einen besonders schönen Abend!“

„Ich hab in der Zeitung gelesen, dass Sie das Monster gefasst haben. Endlich können wir wieder ruhig schlafen.“

Ruhig. Wenn Frau Lehmann wüsste, was sich in den Armenvierteln abspielte, keine fünf Kilometer von ihrem Blumenstand entfernt, hinter hohen Zäunen und vergitterten Toren, sie würde kein Auge mehr zumachen. Vor Angst und vor Scham. Aber das waren Informationen, die die Zeitungen nicht druckten. Nicht drucken durften. Die Dampfmagische Gesellschaft beschützte die Bürger der Stadt vor schlechten Meldungen.

„Sie können schlafen wie ein Baby“, sagte er. Es gab keinen Grund eine alte Frau zu beunruhigen, das Leben war schwer genug. „Ich brauche Ihren schönsten Strauß, Frau Lehmann, für die schönste Frau.“

„Gibt es einen besonderen Anlass, Herr Hauptkommissär?“

„Oh ja, den gibt es. Jeden Tag.“

Frau Lehmann lachte auf. „Frau Lacroix hat großes Glück“, sagte sie. „Mein Frieder ist nun schon vor fast zwanzig Jahren gegangen.“ Sie schüttelte den Kopf und fasste zwei Sträuße roter Rosen zusammen. „Aber er hat nicht leiden müssen, das haben mir die Ärzte versichert. Er hat nicht leiden müssen.“ Sie nickte immer wieder, als wollte sie sich ihre Aussage bestätigen.

Lacroix biss die Zähne zusammen. Friedrich Lehmann war im staatlichen Hospiz gestorben. Er hatte sich buchstäblich die Seele aus dem Leib gehustet. Guy hatte einige der Strahlenkranken sterben sehen und er wusste, wozu die Einrichtungen wirklich da waren. Ärzte gab es kaum, die armen Schweine in den völlig überbelegten Schlafsälen wurden am Leben gehalten, solange es möglich war, um möglichst viele Blausteine zu sammeln. Angehörige hatten keinen Zutritt, um die „Ruhe der Sterbenden“ nicht zu stören.

Alles hatte sich verändert nach dem großen GAU, auch die Menschen. Schlimme Ereignisse brachten immer das Beste im Menschen zum Vorschein – und das Schlechteste.

Guy nahm den Strauß entgegen und drückte Frau Lehmann einige Scheine in die Hand.

„Nicht doch, Herr Hauptkommissär!“, rief sie entrüstet. Doch er hatte sich bereits abgewandt und seinen Weg fortgesetzt.

 

Wenige Minuten später öffnete Fräulein Weber ihm die Haustür. Sie nahm ihm Hut und Mantel ab und lief in die Küche, um eine Vase zu holen.

„Du bist pünktlich!“ Hedwig kam aus dem Wohnzimmer, sie war bereits für den Abend angekleidet. Guy sah sie stumm an. Perlen schimmerten in ihrem roten Haar. Ihre Augen leuchteten aufgeregt, die kleinen Fältchen vom Lächeln vertieft, der weiße Hals von einem schlichten Collier betont.

Sie betaste ihre Frisur und sah an sich herunter. „Ist etwas nicht in Ordnung?“

Guy legte die Blumen auf die Kommode, nahm seine Frau in die Arme und küsste sie. „Ich bin der glücklichste Mann auf der Erde“, sagte er dann. „Was findest du nur an mir?“

„Du bist dumm“, antwortete sie. „Wie kann jemand, der so klug ist, gleichzeitig so dumm sein?“

Guy drückte seine Nase in ihr Haar und atmete den Duft nach frischen Limonen ein. „Ich bin eben vielseitig. Ist das der Grund, warum du mich liebst?“

„Natürlich“, sagte sie. „Und weil du im Smoking so eine fantastische Figur abgibst. Also los“, sie deutete auf die Wanduhr, „zieh dich um, sonst verpassen wir die Ouvertüre.“

Guy verzog das Gesicht, als sie sich aus seinen Armen wand und ihn unbarmherzig zur Treppe schob. „Fügen Sie sich in Ihr Schicksal, Herr Kommissär. Jeder bekommt, was er verdient.“

„Du bist grausam“, sagte er lachend und stapfte die Treppe hinauf.

 

Nachdem der letzte Ton verklungen war, herrschte vollkommene Stille im Cölner Opernhaus. Die Primadonna hatte die Augen geschlossen. Guy hielt den Atem an und Hedwig drückte seine Hand so fest, dass es weh tat. Dann brandete Applaus auf. Guy blieb auf seinem Stuhl sitzen, beobachtete die Menschen, die begeistert von ihren Sitzen sprangen, und spürte den Tönen nach, die trotz des Lärms noch immer in ihm nachklangen. Dann erhob er sich ebenfalls und fiel in die frenetischen Beifallrufe ein.

Hedwig strahlte ihn an. Sie war glücklich. Und Guy war froh, dass er endlich ihrem Drängen nachgegeben und eine Vorstellung mit ihr zusammen besucht hatte. Die Musik, aber vor allem Edda Felices Stimme, hatten eine Seite in ihm berührt, die er viel zu tief in sich verschlossen hatte.

Der Vorhang fiel zum wiederholten Male. Die Primadonna stand immer noch an ihrem Platz und neigte nur gelegentlich den Kopf, als perlten der Applaus, die Jubelrufe, die allgemeine Verzückung von ihr ab wie ein Frühlingsschauer von frischen Trieben. Sie schwankte ein wenig. Zwei Männer tauchten von der Bühnenseite auf, überreichten ihr ein riesiges Bouquet. Sie hakten sie ein und führten sie von der Bühne, obwohl das Publikum noch immer tobte.

 

„Vollkommen“, sagte Hedwig, als sie im Foyer standen und Guy ihr in den Mantel half. „Professor Küpperbusch hat die vollkommene Stimme geschaffen. Es ist zu traurig.“

„Traurig?“ Guy drückte Hedwigs Hand, führte sie die Eingangsstufen hinab. „Traurig ist nur, dass du mich erst heute mitgenommen hast und ich viel zu viele Vorstellungen verpasst habe.“

„Du Lügner!“ Hedwig gab ihm einen Klaps auf den Arm. „Wie viele Male habe ich dich schon gebeten, mich zu begleiten? Hundert? Tausend?“

„Unendlich viele Male! Wie kannst du es nur mit einem solchen Banausen aushalten?“

Eine Mietkutsche näherte sich und Guy hob den Arm. Hedwig nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und sah ihm tief in die Augen. „Ich liebe dich, du Banause.“

Guy beugte sich zu ihr hinunter, berührte sacht ihre Lippen mit seinen. Das Hupen des Chauffeurs ließ sie auseinanderfahren. „Möchtest du noch etwas essen?“

Hedwig schüttelte den Kopf. „Lass uns nach Hause fahren.“

Sie stiegen in die Mietkutsche und Guy nannte dem Chauffeur ihre Adresse. Mit einem lauten Knall stieß das Automobil eine Dampfwolke aus und setzte sich in Bewegung.

„Ich werde mich nie an diese stinkenden Gefährte gewöhnen“, sagte Hedwig. „Ich liebte das gemächliche Traben der Pferde, ihren Geruch, das Geräusch der Hufe auf dem Asphalt.“

„Bei dieser Witterung mögen auch Pferdekutschen noch fahren können, aber wenn der Rußausstoß der Dampfkraftwerke wieder stärker wird …“

„Ich weiß.“ Mit einem Seufzen lehnte sie den Kopf an seine Schulter und Guy legte den Arm um ihre Schultern.

„Was meintest du vorhin damit, dass es traurig sei? Die Primadonna war fantastisch, ihre Stimme ist die Krönung von Professor Küpperbuschs Schaffensperiode.“

„Hast du nicht gesehen, wie sie schwankte? Den Schmerz in ihren Augen? Ihre Karriere neigt sich dem Ende zu. Bald werden die Apparaturen an ihren Stimmbändern Rost ansetzen, die Organe versagen. Sie steht schon länger auf der Bühne als alle anderen Primadonnen vor ihr.“

Guy sah aus dem Fenster. Noch waren die Straßen voller Leben, aber bald schon würden sie sich leeren. Die DMG hatte eine Ausgangssperre ab 23.00 Uhr angeordnet. Tiefdruck war angekündigt worden.

„Ich erinnere mich“, sagte er. „Ich habe seinerzeit einen Artikel darüber gelesen. Die letzte Primadonna brach auf der Bühne zusammen. Nachdem sie den letzten Ton gesungen hatte, hörte ihr Herz auf zu schlagen. Einfach so. Du hast recht, es ist traurig.“

Die Mietkutsche stoppe vor ihrem Haus. Guy bezahlte den Fahrer und sie gingen hinein. Die Haushälterin half ihnen aus den Mänteln und fragte nach ihren Wünschen.

„Wir sind wunschlos glücklich“, sagte Guy. „Sie können zu Bett gehen, Fräulein Weber.“

Als sich die Tür zum Dienstbotenbereich geschlossen hatte, nahm er Hedwig auf die Arme und trug sie nach oben ins Schlafzimmer.

***

CC by-nc-nd Simone Keil

Clockwork Cologne: Die Steampunk-Krimi-Serie

Guy Lacroix: Auf der Jagd nach dem Rosenkranzmörder ist der erste Teil der Reihe um Kommissär Lacroix.

Als eBook im Online-Handel und als Fortsetzungsgeschichte jeden Sonntag auf www.qindie.de

Das Buch 
Die Website zur Serie
Clockwork Cologne auf Facebook