Kollegen, die sich vor die Schreibmaschine setzen und auf einen Rutsch druckreife Texte in die Tasten hauen, habe ich immer bewundert. Ich kenne sogar Autoren, die es in einer einzigen Nacht schaffen, einen Science-fiction-Roman zu verfassen und diese Leistung dutzendfach vollbrachten. Das Manuskript würdigten sie dann keines weiteren Blickes und sandten es direkt an ihren Verlag, der es redigierte und herausgab.
Ich habe mich immer schwerer getan mit der Schreiberei als jene leichtfüßig über die Tastatur eilenden Kollegen. An manchen Sätzen fummele ich endlos, selbst kürzere Texte schreibe ich mitunter mehrfach um und feile am Ausdruck. Wer derart viel Energie in sein Geschreibsel fließen lässt, träumt zwangsläufig davon, ein wenig schneller schreiben zu können, kurz: produktiver zu werden und den inneren Schweinehund, der sich liebend gern aufs Sofa legen möchte, zu überwinden.
Denn genau das ist die Krux am Beruf des Autors: Er ist zum Schreiben verflucht, ob er nun Lust hat oder nicht. Dabei versuche ich mir schon optimale Bedingungen zu schaffen, damit die Sache flutscht. Ruhe, Getränke und Süßigkeiten sollen den Workflow fördern. Doch dann kommt der Reiz, schnell ein paar Mails lesen und beantworten zu müssen, in die Kneipe von Facebook zu gehen und einen Absacker bei Twitter zu nehmen.
Jeder gute Vorsatz braucht eine Losung. »Nulla dies sine linea«, lautet mein entsprechendes Motto, das übrigens von einem Römer namens Plinius stammt, der offensichtlich wesentlich disziplinierter arbeitete als ich. Dieser Gaius Plinius Secundus d. Ä. war ein Universalgelehrter, der vor zweitausend Jahren lebte und von dessen zahlreichen Schriften das Werk »Naturalis historia« (»Die Geschichte der Natur«) erhalten geblieben ist. »Kein Tag ohne Linie« lautet die wörtliche Übersetzung der Devise, die ursprünglich für die Malerei stand, später jedoch vor allem auch in der literarischen Welt Einzug hielt und die Notwendigkeit des täglichen Lesens und Schreibens betont.
Im 35. Buch seiner Naturgeschichte kommt Plinius ausführlich auf die Malerei zu sprechen, eine Kunst, die einst als »nobilis« galt, bevor sie im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung in Rom von Blattgold und Marmor verdrängt wurde. Bei der Beschreibung berühmter Maler und ihrer Werke bemerkt der Gelehrte, wie wichtig ihm die Darstellung der Entwicklung der Malerei sei. Er erwähnt den Griechen Apelles als größten Maler der Antike und beschreibt dessen kollegialen Wettstreit mit seinem Landsmann Protogenes, bei dem es darum ging, wer die feinere Linie malen könne. Apelles hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, niemals einen Tag vergehen zu lassen, ohne sich durch das Ziehen einer Linie in seiner Technik zu vervollkommnen.
Im Haus des Protogenes habe sich Apelles in Abwesenheit des Hausherrn durch eine mit dem Pinsel gemalte Linie von höchster Feinheit vorgestellt. Diese versuchte der Hausherr seinerseits, nachdem er allein aufgrund der Qualität der gemalten Linie den Urheber identifiziert hatte, mit einer noch feineren Linie zu übertreffen. Schließlich ergänzte Apelles die vorhandenen beiden Linien mit einer dritten, und so ging es lustig weiter. Das tägliche Malen einer Linie wurde zum Sprichwort: »Nulla dies sine linea – kein Tag ohne Linie« heißt es seitdem und gilt vielen Künstlern und Literaten als Richtschnur.
Der Maler Paul Klee brachte es allein in seinem vorletzten Lebensjahr auf zwölfhundert tagebuchartige Arbeiten. 1938 notierte er den berühmten Satz aus der »Historia Naturalis« in seinen Oeuvrekatalog unter der Werknummer 365, einer Zeichnung mit dem Titel »Süchtig«. – »Kein Tag ohne Linie« gilt als bestimmendes biografisches Merkmal des Expressionisten und steht in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung seines Spätwerks. Es scheint, als habe Klee wie wild gegen den nahenden Tod angemalt.
War die tägliche »Linie« ursprünglich ein feiner Pinselstrich, so wurde er in Folge gern erweitert gebraucht. Philosoph Friedrich Nietzsche pflegte den Leitspruch, und Schriftsteller Emile Zola ließ ihn als persönliches Motto über dem mächtigen Kamin in seinem Arbeitszimmer anbringen. Wer das zum Museum erhobene Domizil des Schriftstellers in Médan nahe Paris besucht, und sein Arbeitszimmer bewundert, erfährt, dass der Autor jeden Tag zwischen neun und dreizehn Uhr am Schreibtisch zu finden war, um mindestens vier bis fünf Seiten zu schreiben. Der Mann war produktiv: Ohne eiserne Disziplin hätte Zola es kaum auf mehr als zwanzig umfangreiche Romane gebracht.
Literaturkritiker Walter Benjamin greift in seiner Arbeit »Die Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen« den Gedanken von Plinius als These auf: »Nulla dies sine linea – wohl aber Wochen«. Damit unterstreicht er die Notwendigkeit, jeden Tag, und das sind sieben Tage pro Woche, schöpferisch tätig zu sein. Ab und zu aber seien kreative Urlaube gestattet, die ein Atemholen ermöglichen. In einer weiteren These führt er dazu aus: »Höre niemals mit Schreiben auf, weil dir nichts mehr einfällt. Es ist ein Gebot der literarischen Ehre, nur dann abzubrechen, wenn ein Termin (eine Mahlzeit, eine Verabredung) einzuhalten oder das Werk beendet ist«.
Danke, Meister Benjamin! So gesehen bin ich auf einem guten Weg. Schauen wir mal, was mir morgen vor die Tasten kommt. Oder sollte ich erst einmal Kreativurlaub machen?