Von Nikola Hahn
Am Anfang war das Hören. Die Menschen saßen ums wärmende Feuer, draußen oder drinnen in der Höhle, Sonnenuntergang, dämmriges Licht. Einer erzählte, die anderen schwiegen, hörten zu. Was bekamen sie wohl zu hören, unsere Ahnen? Erlebtes, Erfahrenes, erzähltes Wissen, das von Generation zu Generation weitergegeben und dadurch zum Gedächtnis aller, zur Geschichte wurde. Viele tausend Jahre später wurde immer noch erzählt, im Winter die Weihnachtsgeschichte, unterm Baum mit Kerzenlicht, Plätzchenduft, und die Hörer bekamen glänzende Augen. Abends folgten Gute-Nacht-Geschichten, aus dem Zauber des Augenblicks geboren; die Kinder vergaßen sie lange nicht, manche vergaßen sie nie. Zwar waren die meisten dieser Geschichten längst auf Papier gedruckt, aber das Vorlesen war mindestens so geheimnisvoll wie das Erzählen, denn der Vorleser gab wie einst der Erzähler der Geschichte seine eigene Stimme.
Waren es Erzähler, waren es Hörer? Irgendwer hatte irgendwann angefangen, gehörte Geschichten aufzuschreiben. Fortan blieben sie besser in Form, veränderten sich nicht mehr beliebig, und wurden doch jedes Mal neu und anders, denn nach wie vor fingen sie erst in den Köpfen derer an zu leben, die sie lasen. Der Leser wurde autark, zum Souverän. Er erzählte sich fortan selbst, indem er las. Schmucklose Buchstaben erzeugten Stimmen und Bilder, schmolzen zu einer Melodie, die nur für ihn, in einer einzigartigen Weise spürbar, hörbar, fühlbar war. Und die ihn gleichzeitig mit anderen Lesern verband, die Gleiches, aber nie dasselbe fühlten und spürten.
Ein Kinobesucher kann vom Film begeistert sein, wie der Leser kann er mit den Figuren fühlen, leiden, weinen. Kann ein Film nicht ebenso entführen, wie es ein Buch vermag? Oder, um den Sprung ins elektronische Zeitalter zu tun: Ist die Krönung nicht das PC-Spiel, in dem der Konsument zum Akteur wird, der die Geschicke mitbestimmt, der letztlich seine eigene Geschichte schreiben kann?
Wer einen Film anschaut, braucht keine Bilder im Kopf, er bekommt sie auf der Leinwand oder dem Bildschirm fertig geliefert: die einsame Landschaft genauso wie das Großstadtleben oder eine ferne Galaxie. Die Bösen und die Guten sehen aus wie sie eben aussehen, und das Rot ihrer Mäntel und das Blau ihrer Hemden zeigt der Filmemacher den Zuschauern als Fixum. Es gibt nichts dazuzudenken, es ist alles schon da. Der Zuschauer konsumiert, der Leser interpretiert: die Intensität von Rot, das Leuchten von Blau, hysterisches Lachen, einen schüchternen Blick, einen verborgenen Garten, den Sonnenaufgang. Der Zuschauer kann fühlen und mitfühlen, sich gruseln und ekeln, aber er kann es nur in der Welt tun, die ein anderer ihm vorsetzt. Die Welt des Lesers wird lebendig in dem Moment, wenn er sie erliest, er faltet einen Fächer auf und bemalt ihn mit eigenen Farben. Er geht in ein Haus und richtet die Zimmer ein. Der Fächer des Zuschauers ist schon aufgeklappt, und manchmal ist er mit so wunderbaren Mustern und Farben bemalt, dass er sich darin verlieren kann. Und doch bleibt er vorgefertigt, seine Schönheit ist für alle gleich. Die Welt des Lesers hingegen wird erst durchs Lesen fertig. Ein Autor hat nur sechsundzwanzig Bausteine, aus denen er einen Fächer oder ein ganzes Haus bauen kann, und sie taugen nicht, sämtliche Möbel zu zimmern. Filme laden ein zu einer Fertighausausstellung. Häuser und Gärten sind formvollendet angelegt. Das kann gefallen, sogar dem nahekommen, was der Zuschauer mag und sich wünscht. Es kann ihn inspirieren, beflügeln. Und doch bleibt er Gast, wird kein Gestalter. Niedergeschriebene Geschichten hingegen laden den Leser ein, die Räume nach eigenem Gusto zu füllen, das Grün im Garten nach Gespür und Gemütsverfassung zu komplettieren.
Der Zuschauer bekommt etwas geboten: Er sieht und hört. Der Leser sieht nichts außer reizlosen Zeichen, die zu Wörtern verbunden sind. Erst wenn er anfängt zu lesen, entfaltet sich der Zauber: Die Wörter, Sätze, Seiten fangen ihn ein; aus ihnen sprudelt Spannung, Abenteuer, Sehnsucht, Wehmut, Trost und Trauer, Lachen, Leben, Lust.
Aber hat die Moderne das alles nicht längst überholt, selbst den Film, den altmodischen, hinter sich gelassen? Ist nicht der PC-Spieler der wahre Gewinner im Geschichten-Erleben? Er lässt nichts Erzähltes über sich ergehen, er gestaltet es mit! Ist er nicht der kreativste, fantasievollste Konsument von allen? Auf den ersten Blick vielleicht. Aber was ist er tatsächlich?
Der Spieler begibt sich wie der Zuschauer und der Leser in eine fremde Welt, aber er muss etwas tun, um sie erlebbar zu machen. Er kann nicht genießen ohne zu handeln. Er tut in einer fremden Welt, was die Menschen seit Anbeginn ihres Daseins in ihrer eigenen Welt tun: Agieren, Reagieren, Interagieren, Kämpfen, um sich zu profilieren, zu amüsieren, sich mit anderen zu messen, an ihnen zu wachsen oder zu scheitern. Er folgt einem Weg, den ein anderer angelegt hat zu einem Ziel, das ein anderer definiert hat. Weil er das Ziel nicht kennt, mag der Weg dorthin spannend sein, aufregend, anregend. Vor allem, wenn es hier und da einen Abzweig gibt, eine Gabelung, die vorspiegelt, selbst entscheiden zu können. Der Spieler wird Gefühle haben, Ärger, Freude, Lust, aber sie sind nicht mit seinem Leben verbunden, haben dort keine Konsequenz, lassen ihn nicht reifen. Er lebt ein virtuelles Leben, das anstrengt wie ein echtes. Nur dass es nicht echt, nicht wahr ist.
Geschichten hingegen wollen gar nicht wahr sein, sie wollen nur das Gefühl von Wahrheit erzeugen, Gegenpart zu den Zumutungen des Alltags, Rückzugsort für die Seele sein. Sie fordern nichts außer das Stillesein. Wer eine Geschichte liest, kann niemals scheitern. Im Zimmer der Fantasie steht ein Sofa, und das Fenster, das den Blick hinaus ins Grüne lenkt, ist weder dafür vorgesehen noch geeignet, ein Bungee-Seil daran zu befestigen. Geschichten brauchen Ruhe, keinen Krawall. Sie vertragen sich mit Bildern, nicht mit Animation.
Vielleicht wird man irgendwann all den Out-Geburnten statt Yoga und Klosterwochenende empfehlen, ein Buch in die Hand zu nehmen, Geschichten nicht zu konsumieren, sondern zu erlesen. Womöglich werden sie fragen, wie die Altvorderen es angestellt haben, sich mit Papier und Buchstaben zu amüsieren. Und warum sie als moderne Menschen Zeit damit verschwenden sollten, auf Schwarzweiß zu gehen in ihrer fröhlich bunten smartgephonten Online-Welt.
Wie schade das wäre!