Klappe, die Zweite [Kolumne: Der Anfang vom Ende?]

Der Anfang vom Ende KolumneVon Maria M Lacroix

In dieser Rubrik möchte ich mir immer zum ersten Samstag des Monats den Anfang von 5 verschiedenen Qindie-Büchern ansehen, genauer beleuchten und analysieren. Denn der Beginn eines Romans animiert den Leser entweder dazu weiterzulesen oder das Buch zuzuklappen.

Zur Einführung zeige ich an einem Beispiel aus der Weltliteratur wie ich vorgehe, bevor es mit den Büchern aus dem Qindie-Regal losgeht …

 

Es gibt gewisse Themen, welche zwar allseits höchstes Interesse beanspruchen, doch aber gar zu grauenvoll sind, um Anliegen der eigentlichen Literatur zu sein.

Aus heutiger Sicht würde ich das „welche“ beanstanden, die Verschachtelung des Satzes und die Füllworte. Allerdings muss berücksichtigt werden, aus welcher Epoche der Autor stammt. Auch wenn eine bewusst altertümliche Sprache gewählt wurde, sind „welche“ statt „die“ und großzügig verwendete Füllworte gerechtfertigt. Bei diesem ersten Satz weiß man, dass eine Erzählung folgen wird. Eigentlich nicht so gelungen, aber das Interesse wird geweckt, weil der Autor über etwas zu erzählen gedenkt, das – nach eigener Aussage – „zu grauenvoll“ ist, um es zu erzählen. Ja, was ist denn so grauenvoll? will man als Leser wissen … und liest unwillkürlich weiter.

Aus: Lebendig begraben von Edgar Allan Poe

 

Nun zu den Qindies …

Nathael spürte einen Windstoß im Rücken, der sein Wams aufblähte, als zöge ein Sturm über das Weizenfeld herauf. Bis zu diesem Moment war es ein wolkenloser, windstiller Frühjahrstag gewesen. Doch nun war das Vogelgezwitscher, das die Feldarbeiten den ganzen Tag untermalt hatte, jäh verstummt.

Name des Protagonisten und Stimmung lassen auf ein historisches Setting schließen. Dazu würde auch der Gebrauch des etwas antiquiert wirkenden Wortes „jäh“ und die konjugierte Form von „ziehen“ passen (statt – wie oft verwendet – würde […] ziehen). Den ersten Satz finde ich nicht sehr gelungen, da er mir zu verschachtelt ist. Zwei Sätze hätten mir – denke ich – besser gefallen bzw. den ersten Teil weglassen. „Nathaels Wams blähte sich auf, als zöge ein Sturm über das Weizenfeld herauf.“ Meiner Meinung nach wirkt das etwas direkter, näher am Protagonisten dran. Ich bin sowieso kein Fan von rauszoomenden Formulierungen, wie „er spürte, dass“ oder „sie fühlte, wie …“ Ist aber Geschmackssache. J

Ansonsten gefällt mir der Anfang gut, da etwas Unheilvolles in den ersten paar Sätzen mitschwingt.

Aus: Skiria – Am Berg der Drachen von Fran Rubin

 

Bern, in der Stadtbibliothek, Frühling 1996.

Am Samstag war die Stadtbibliothek in der Münstergasse nicht dermaßen voll, wie es sonst der Fall war. Die Studenten hatten noch Frühlingsferien und nur vereinzelt sah man einen von ihnen, der an einem der glattpolierten Tische saß, in dicken Wälzern blätterte und sich Notizen machte.

Eigentlich geht es in dieser Kolumne nicht darum, die Sprache zu analysieren, sondern nur die Sogwirkung der ersten Sätze – und die ist hier definitiv gegeben. Der Beginn ist beschaulich, gemütlich. Man bekommt die Infos „wo, wann, was“. Dennoch bin ich etwas über das Wort „vereinzelt“ gestolpert. Kann man „vereinzelt“ etwas sehen? Ist es nicht vielmehr so, dass man „selten“ etwas sieht oder „vereinzelte Studenten“ sieht? Egal. Wie gesagt, darum geht es hier nicht … der Beginn mach Lust weiterzulesen, da eine bestimmte Stimmung transportiert wird, die mir persönlich gefällt.

Aus:  memento mori! … bedenke, dass du sterblich bist von Margot S. Baumann

 

Michi scheint noch nicht da zu sein. Kurz schaue ich auf die dunkel getäfelten Holzwände, die Bilder von Charly Parker und Louis Armstrong und die ausgemusterten Instrumente. Die meisten Tische sind von Berufstätigen besetzt, die gerade Mittagspause machen. Es ist ein schöner Luxus, mitten in der Woche erst jetzt zu frühstücken.

In diesen wenigen Sätzen steckt unheimlich viel an Information. Man erfährt, dass der Protagonist mit jemandem verabredet ist und wartet mit ihm. Man weiß, wo er ist und wie spät es in etwa ist. Dazu kann man sich die Umgebung sehr gut vorstellen (eine gemütliche Jazz-Bar) und in jedem Leser werden automatisch bestimmte Erinnerungen und Eindrücke geweckt. Mit dem (hier) letzten Satz konnte ich mich ganz besonders gut identifizieren. Der Anfang besticht nicht durch eine Spannung, die das Herz rasen lässt, sondern mehr durch eine angenehme Stille, ein schwelgen in Erinnerungen …

Aus: … wenn es Zeit ist … von Florian Tietgen

 

Fragment: Der Hyper-Albtraum #23

„Es ist Zeit“, sagt der Mann mit der langen Narbe im Gesicht.

Die Straße riecht nach verbranntem Holz und Fäulnis. Ich passiere einen alten Holzkarren, auf dem sich einige halbnackte Leichen stapeln. Hausgäste. Die Kutschen mit den provisorischen Särgen kommen hier, in die enge Seitenstraße, nicht hinein. Sie warten an der Einfahrt. Die Nacht schwindet langsam aus den Gassen und weicht dem Grauen des Morgens.

 

Wow! Das knallt. Hyper-Albtraum Nr. 23? Was ist das? Alleine diese Überschrift wirft Fragen auf, die man beantwortet haben möchte. Alter Holzkarren? Halbnackte Leichen? Klingt nach Pestseuche im Mittelalter (zumindest erscheinen in meinem Kopf diese Bilder), kombiniert mit „Hyper-Albtraum“ – futuristisch? Der Beginn eines postapokalyptischen Abenteuers? Der elliptische Stil gefällt mir ebenfalls und an das Präsens habe ich mich seit „Hunger Games“ längst gewöhnt. Klares Weiterlesungspotential …

Aus: In den Spiegeln (Teil 2) von Ales Pickar

 

Ich habe einen Menschen umgebracht. Meine Augen sind geschlossen. Trotzdem sehe ich das grauenhafte Bild. Tief in mir drinnen. Eingebrannt unter der Haut, weil ich die eine Grenze überschritten habe, die Journalisten niemals überschreiten dürfen. Aus Egoismus – ja, und aus Liebe zu meiner kleinen Schwester Vic!  

Okay, hier muss ich zugeben, dass es der letzte Satz war, der das Ruder nochmal herum gerissen hat. Der Anfang liest sich zwar spannend, aber auch etwas „0815-Thriller“, der mich jetzt nicht unbedingt aus den Socken gehauen hat. Erst der Bezug zu der Schwester hat mich dem Protagonisten näher gebracht und ein persönlicheres Bild gestaltet.

Was mir außerdem nicht ganz klar war, war der Zusammenhang bei Tief in mir drinnen. Eingebrannt unter der Haut, weil ich die eine Grenze überschritten habe, die Journalisten niemals überschreiten dürfen.“ Wie kann ein Bild in der Haut eingebrannt sein? Und was genau hat das damit zu tun, dass eine Grenze überschritten wurde, die für Journalisten tabu ist?

Aber ich denke, dass Krimifans bei solch einem Beginn auf jeden Fall auf ihre Kosten kommen.    

Aus: Mordsschock! von Gaby Hoffmann

 

Schlussbemerkung:

In dieser Kolumne geht es darum, die Sogwirkung der ersten Sätze zu untersuchen. Was für ein Gefühl vermittelt der Beginn, weckt er Interesse, hat man Lust weiterzulesen? Es geht nicht darum, etwaige Rechtschreibe- oder Grammatikfehler herauszufiltern oder zu analysieren.

Maria M. Lacroix