Guy Lacroix: Auf der Jagd nach dem Rosenkranzmörder #2 [Clockwork Cologne]

Guy Lacroix Fall 1 BeitragsbildGuy stand mit verschränkten Armen am Fenster und sah auf die Straße. Die Sonne war gerade aufgegangen und ließ die geschwärzten Fassaden der Backsteinhäuser noch düsterer erscheinen. In diesem Teil der Stadt hielt sich der Verfall in Grenzen, kaum Unrat in den Gassen, nur wenige Bettler, die in den Hauseingängen kauerten, schmutzige Tücher um die Gesichter geschlungen. Doch auch diese hatten sich heute verkrochen. Keine Menschenseele war unterwegs. Selbst die Chauffeure schienen ihre Mietkutschen an diesem Tag in den Unterständen zu lassen. Eine gute Entscheidung.

Es herrschte Tiefdruck und der Wind trieb den Ruß der Dampfkraftwerke durch die Gassen. Die schwarzen Wolken ließen schon an guten Tagen das Atmen zur Qual werden. An Tagen wie diesem grenzte es an Selbstmord, den Schutz des Hauses ohne Rußmaske zu verlassen. Doch Atemschutzgeräte waren knapp und teuer, in den kaiserlichen Warenhäusern schwer zu bekommen. Auf dem Schwarzmarkt erzielten die Hehler mit veralteten Geräten Höchstpreise, die nicht einmal schlichte Staubkörner filtern konnten, geschweige denn den schweren schwarzen Ruß, der die Stadt unter sich begrub wie böser Schnee.

In Guy Lacroix‘ Besitz befanden sich natürlich eine Rußmaske und eine Schutzbrille, ebenso ein sechsschüssiger Revolver. Die Standardausrüstung der Kommissäre des Kaiserlichen Kriminalamtes. Er war so gut ausgerüstet, wie es in diesen Zeiten möglich war. Er hatte nicht die Wahl, in seinem Haus zu bleiben, er hatte seine Pflicht zu erfüllen, die heute darin bestand, im Hafenviertel einen Ambrosia-Händler festzunehmen.

Er ließ die Trommel seiner Dienstwaffe rotieren und steckte sie in das Schulterholster. Dann zog er seinen schwarzen Gehrock darüber, richtete ihn und überprüfte den Sitz in dem großen Spiegel.

Hedwig seufzte im Schlaf und er beugte sich über sie, betrachtete ihr Gesicht, die ein wenig zu große Nase, den Schwung ihrer vollen Lippen. Sie war noch so schön wie an dem Tag, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Er konnte sich nicht sattsehen an ihrem zarten Hals, dem kleinen Leberfleck hinter dem rechten Ohr, ihrem Haar, das ihren Kopf umspülte wie rotes Schilfgras. Er küsste sie sacht auf die Stirn und sie öffnete die Augen.

„Wo gehst du hin?“ Sie zog ihn an sich, rieb ihre Wange an seinem stoppeligen Kinn. „Schon wieder ein Einsatz?“

Ihre Stimme klang besorgt und Guy schüttelte den Kopf. „Nur eine Übung. Während der Ausgangssperre können wir das Hafengelände nutzen.“

Hedwig schob ihre Hand zwischen den Knöpfen seines Hemdes hindurch und streichelte seine Brust. „Du könntest dich krank melden“, flüsterte sie. „Tag und Nacht stehst du auf Abruf bereit, du hast einen freien Tag verdient.“

Sie nickte resigniert, als er ihr Handgelenk packte und einen Kuss in die Handfläche hauchte.

„Es wird nicht lange dauern“, sagte er. „Versprochen. Dann gehöre ich wieder ganz dir.“

„Du gehörst mir“, sagte sie und legte die Hand auf ihr Herz. „Hier drinnen halte ich dich gefangen. Für immer.“

„Für immer.“

Neben der Tür hing seine Schutzkleidung an einem Haken. Er griff seine Gasmaske und bemerkte nicht, dass er die Schutzbrille auf dem Nachttisch vergaß.

 

Guy nahm den Weg durch die U-Bahntunnel. Einer der Eingänge lag nur wenige Schritte von seinem Haus entfernt und das unterirdische Schienensystem würde ihn direkt zum Hafen führen. Viele der Tunnel waren baufällig und die Bahn fuhr bereits seit zehn Jahren nicht mehr.

Das Betreten der unterirdischen Anlage war unter Strafe verboten. Und tatsächlich hielten sich die meisten Bürger fern von den düsteren Tunneln, wenn auch nicht aus Furcht vor Strafe – der Arm des Gesetzes war viel zu kurz, um in die Tunnel zu reichen, die wenigen Beamten erstickten in Arbeit. Die Furcht, die die Bürger von den Tunneln fern hielt, wohnte tiefer. Tief unter dem Tunnelsystem, das sich unter der Cölner Innenstadt zu einem feinmaschigen unübersichtlichen Netz verästelte.

Guy drehte die Kurbel der Taschenlampe, bis der Akku vollständig aufgeladen war und folgte dem Lichtkegel. Die meisten Fliesen waren von den Wänden gefallen, die Feuchtigkeit durchdrang die Mauern. Bald würde auch dieser Teil der Tunnel nicht mehr begehbar sein. Unter den Kachelhaufen raschelte es. Der Geruch nach Mäusedreck war durchdringend. Hinter der nächsten Gabelung stand eine U-Bahn, die Türen geöffnet, als wartete sie nur darauf, dass die Passagiere endlich einstiegen und sie losfahren konnte. Gespenstisch glitt das Licht der Taschenlampe über die blinden Scheiben. Gänsehaut kroch über Guys Arme, er fühlte sich beobachtet, hielt inne und lauschte in die Dunkelheit außerhalb seines bescheidenen Lichtkegels. Ein Klappern, Guy zuckte zusammen und atmete auf, als eine Ratte über die verrosteten Schienen huschte.

„Dummkopf“, flüsterte er und schüttelte den Kopf. Die Tunnel beunruhigten ihn immer wieder, obwohl es nichts Gefährlicheres als Ratten und Mäuse und hin und wieder einen herrenlosen Hund hier unten zu finden gab. Die DMG hatte diesen Teil des Tunnelsystems systematisch abgesucht und für sicher befunden. Es gab keine Eingänge zur Unterwelt. Nicht hier.

Tageslicht erhellte die Düsternis. Guy stieg die Treppe hinauf. Er setzte die Rußmaske auf und tastete nach seiner Schutzbrille. Verdammt! Ein Blick auf seine Taschenuhr zeigte ihm, dass es zu spät war, um umzukehren und die Brille zu holen. Er würde ohne sie gehen müssen.

 

Die Einsatzbesprechung fand in einem leer stehenden Lagerhaus statt. Inspektor Voigt sah auf seine Taschenuhr, als Guy eintrat und räusperte sich. „Nun, da alle anwesend sind, wird Kommissär Lacroix Sie mit den Details vertraut machen.“

Guy nahm den Platz seines Chefs ein. Anwesend waren (außer Kriminalinspektor Voigt) Kommissär Fuchs und zwei Kriminalassistenten-Anwärter. Frischlinge, noch nicht trocken hinter den Ohren. Guy seufzte unhörbar, als er ihre jungen Gesichter betrachtete. Er würde froh sein können, wenn sie nicht über ihre eigenen Füße stolperten. Die Beamten des KKA waren völlig überlastet, so dass man dankbar sein musste, wenigstens Frischlinge zugeteilt zu bekommen. Der Einsatz würde durchgeführt werden und die zur Verfügung stehenden Beamten würden ausreichen müssen.

„Meine Herren.“ Er nickte den Kollegen zu. „Wir haben Informationen erhalten, dass heute um genau 9.00 Uhr die Übergabe stattfinden wird. Es handelt sich um Ambrosia im Wert von über tausend Cölnmark. Zielobjekte sind ein Straßenhändler und sein Zulieferer, sowie der Fahrer des Automobils. Reine Routine also und selbst mit unseren knappen personellen Möglichkeiten spielend zu bewältigen.“

Inspektor Voigt zog die Mundwinkel nach unten. Für diesen unangemessenen Hinweis würde Guy eine Rüge kassieren, aber das war es ihm wert.

„Kommissär Fuchs?“ Der Angesprochene erhob sich. „Sie beziehen Stellung an der westlichen Ausfahrt und kümmern sich um den Wagen des Lieferanten. Unsere beiden Anwärter sichern das östliche Tor.“ Nervös fingerte der Kleinere an seiner Waffe herum. Hoffentlich schoss er sich damit keinen Zeh ab. „Und ich“, fuhr Guy fort, „werde den Händler übernehmen. Ich beziehe Stellung hinter den Containern. Der Mann wird auf dem freien Gelände zwischen den Anlegeplätzen und den Lagerhallen leicht zu überwältigen sein. Der Einsatz wird keine fünfzehn Minuten dauern. Und das sollte er auch nicht, denn meine Frau wartet mit dem Frühstück auf mich.“ Höfliches Gelächter. „Noch Fragen? Gut.“ Er sah auf seine Taschenuhr. „Es ist genau 8.40 Uhr. Nehmen wir unsere Plätze ein.“

„Danke, Kommissär.“ Inspektor Voigt klemmte sich seine Aktentasche unter den Arm und zog den Hut auf. „Ich erwarte dann Ihren Bericht.“

„Selbstverständlich, Inspektor. Gleich Montag früh haben Sie ihn auf dem Schreibtisch.“ Guy sah seinem Vorgesetzten nach, als er zum Ausgang eilte, wo sein Dienstwagen mit laufendem Motor wartete. Er hatte das dringende Bedürfnis auszuspucken, besann sich aber, als er sich der Blicke der jungen Anwärter bewusst wurde. „Also, meine Herren, verlieren wir keine Zeit.“

Die Burschen eilten auf den ihnen zugewiesenen Platz. Guy schüttelte Kommissär Fuchs‘ Hand und sah ihm nach, wie er sich beeilte, den westlichen Ausgang zu erreichen.

Um 8.45 Uhr spannte Guy Lacroix den Hahn seines Revolvers und bezog Stellung hinter den Containern. Der Händler erschien pünktlich um kurz vor neun. Guys Pulsschlag erhöhte sich und doch war er ganz ruhig. Er drückte sich mit dem Rücken an den Containern entlang, der Ruß brannte in seinen Augen und trieb ihm die Tränen hinein.

Der Händler lief auf die Kräne zu, wo soeben ein schwarzes Automobil zum Stehen kam. Das Gefährt dampfte und kleine Explosionen spuckten graue Wolken in die von Rußpartikeln geschwärzte Luft. Die Übergabe ging eilig vonstatten. Der Wagen fuhr davon, noch bevor sich die Tür des Fonds geschlossen hatte. Um ihn würde sich Kommissär Fuchs kümmern. Ein zuverlässiger Mann.

Guy hob die Waffe. Der Händler passierte sein Versteck, blickt sich um, stockte kurz und lief eilig weiter. Guy sah im Augenwinkel eine Bewegung, schnellte herum und legte an. Eine Kugel streifte seinen Oberarm und zog eine schmerzende Furche durch sein Fleisch. Er riss den Revolver herum, folgte der Bewegung mit seinem Körper. Der Schrei einer Frau durchdrang seine Konzentration nur gedämpft. Guy drückte ab, einmal, zweimal, der Händler stürzte getroffen zu Boden.

Wieder wandte Guy sich der Gestalt hinter seinem Rücken zu und sah, wie sie ebenfalls zu Boden sank. Irgendetwas, an der Art wie sie Arme in die Höhe riss, kam ihm vertraut vor. Vertraut und einzigartig.

 

Hedwig Lacroix starb um 9.15 Uhr am 40. Jahrestag des großen GAUs. Nicht an den Folgen der magischen Verstrahlung, sie befand sich nur zur falschen Zeit am falschen Ort.

Es war eine 8mm Kugel aus Kommissär Lacroix‘ Dienstwaffe, die an einem Stahlträger abprallte, abrupt die Richtung änderte, die Frontalplatte ihres Schädels durchdrang, eine Arterie zerfetzte, das Großhirn zerschnitt wie Butter und im Kleinhirn stecken blieb. Hedwig spürte keinen Schmerz. Zuerst verlor sie die Fähigkeit zu sehen, dann das Gehör.

Sie hörte nicht das Brechen ihres Schädelknochens, als sie auf das Metallgeländer prallte, sah nicht das Entsetzen in Guys Gesicht, als er sie erkannte, spürte nicht seine Hände, die ihren Körper an sich rissen, seine Lippen, die sich auf ihre pressten.

Es war still und dunkel, als Hedwig Lacroix für immer die Augen schloss. Die Schutzbrille ihres Mannes hielt sie fest umklammert.

***

CC by-nc-nd Simone Keil

Clockwork Cologne: Die Steampunk-Krimi-Serie

Guy Lacroix: Auf der Jagd nach dem Rosenkranzmörder ist der erste Teil der Reihe um Kommissär Lacroix.

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