Autor? Keine Ahnung. Buchtitel? Irgendwas mit 100 und Fenster … Kindle und die Folgen

Mittwoch!

Von Ralf Boscher

Welches Buch liest Du gerade? Dies fragte ich eine Arbeitskollegin, die mit ihrem Kindle in der Mittagssonne saß und die Pause genoss. Oh, weiß ich gar nicht. Aber es gefällt mir. Ich bohrte nach. Autor? Keine Ahnung. Der Titel ist irgendwas mit 100 und Fenster. War eine Empfehlung bei Amazon. Kurz angelesen, Leseprobe gefallen, heruntergeladen. Sie, die ihre Brötchen als Grafikerin verdient, konnte sich noch nicht einmal an das Cover erinnern.

Ralf_Boscher_Kindle_Ende_BuchDas war bei gedruckten Büchern anders, wie ich mich erinnere und sie bestätigt dies. Früher hätte sie immer gewusst, aus wessen Feder das Buch mit dem Titel „So und so“ stammte – und an die Cover hätte sie sich natürlich auch erinnern können. Aber da hätte sie ja auch immer, wenn sie das Buch zugeklappt oder zur Hand genommen hat, den Titel vor Augen gehabt. Doch seitdem sie fast alles auf dem Kindle liest, verschwinden Autor und Titel schnell hinter den vorwärts gescrollten Seiten.

Was bedeutet das, so frage ich mich, für das Buch, für den Autor? Habe ich hier vielleicht in der Mittagspause auf meiner Arbeitsstelle das viel beschworene Ende des Buches erlebt?

Ich bohrte weiter. Meine Kollegin konnte mir lebhaft von dem Text erzählen, den sie bereits gelesen hatte. Auch das zuvor gelesene E-Book hatte sie präsent. Nur eben nicht den Autor, nicht den Titel, nicht das Cover.

Ist das eine persönliche Eigenart von ihr oder ist dies symptomatisch für die Leseerfahrungen mit einem E-Book? Gesetzt es wäre Letzteres, so scheint das, was vom Buch übrig bleibt, jenes Gebilde zu sein, das in der in der guten alten Zeit zwischen den Buchdeckeln lag: der Text. Oder genauer: es bleibt der Text ohne Titelei und ohne Impressum.

Es bleibt also die Geschichte, die erzählt wird.

Was fehlt, ist der Rahmen: Im materiellen Sinne die Buchdeckel, bei einem gebundenen Buch der Umschlag. Die vorangestellten Papierseiten mit Autor, bibliografischen Angaben, dem Verlagsnamen … Im ideellen Sinne der Interpretationsrahmen, den Cover mit Titel, gegebenenfalls Untertitel, der Autorennamen, der Verlag vorgeben: Denn ein Cover schürt Erwartungen, gibt eine Leserichtung vor, genauso wie ein Autorenname oder ein Verlag dies können: Steht Stephen King oder Walser auf dem Cover? Ist Bastei Lübbe oder Suhrkamp der Verlag?

Namen lenken Leser.

Wenn also der Rahmen fehlt, haben wir kein Buch mehr vor uns? Liest der Leser den reinen Text, liest er dann keine Bücher mehr? Oder anders gefragt: Braucht der Leser diesen Rahmen, um richtig lesen zu können? Oder noch anders gefragt: Reagieren viele etablierte Autoren und Verlage deswegen so allergisch auf E-Books, weil sich der Leser von den vorgegebenen Interpretationsrahmen emanzipiert? Das Ende des Buches …

Das Ende des Buches?

Was macht ein Buch zum Buch?

Ich würde sagen: Erstens jemand, der einen Text in der Absicht schreibt, diesen Text über einen intimen Rahmen hinaus zu veröffentlichen. Zweitens ein Leser, der diesen Text nicht aus intimen Gründen nach Veröffentlichung liest. Gehört noch mehr dazu? Seitenanzahl? Anspruch? Rechtschreibung? Genre? Eine Instanz, die sagt: Ja, dieses Buch ist wert, veröffentlicht zu werden? Eine Instanz, die sagt: Ja, dieses Buch ist es wert, gelesen zu werden? Braucht ein Buch einen Rahmen? Einen Autorennamen, einen Buchdeckel, einen Umschlag, ein Cover, einen Verlag?

Ich würde sagen: nein. Ist der formlose Ausdruck eines Manuskriptes, das von Hand zu Hand gereicht wird, kein Buch, weil es nicht gebunden ist? Sind Texte, die aus Furcht vor Verfolgung anonym an Leser weitergegeben werden, keine Bücher?

Es sind also drei Elemente, die ein Buch ausmachen: Ein Verfasser, eine Veröffentlichung, ein Leser.

Ein Buch brauchte, um veröffentlicht zu werden, noch nie einen Verlag – nur den Ehrgeiz des Verfassers, gelesen zu werden. Ein Buch braucht keinen Autorennamen, dies beweisen anonym verfasste Bücher. Ein Buch ist eine Geschichte, die jemand erzählenswert fand, eine Geschichte, die öffentlich verfügbar ist, und ein Leser, der diese Geschichte lesen möchte. Ja, ein Buch ist sogar ein Buch, wenn reale Leser fehlen – selbst ein imaginärer Leser, für den ein Text geschaffen wird, lässt ein Buch entstehen.

Zerstören E-Books diese Trinität und bedeuten das Ende des Buches?

E-Books haben Verfasser. Wurden diese Dateien zum Download bereitgestellt, so sind sie veröffentlicht, und sind sie veröffentlicht, so gibt es zumindest den imaginären Leser. Folglich ein Buch.

Warum also „Ende des Buches?“ Warum also zerstören Kindle und Co. unsere Lesekultur?

Weil es nicht um das Ende des Buches geht, sondern um das Ende des guten Buches. Oder genauer: Um die Frage, wer die Macht hat, zu bestimmen, was ein gutes Buch ist. Kurz: es geht wieder einmal um nichts anderes, als um den Kanon.

Aber warum redet niemand über den Kanon, die Macht über die Leser oder über die Sorge, dass Leser nicht das Richtige lesen?

Sieht man sich die neueren Äußerungen zum Kulturverfall aufgrund von E-Books (und hier steht vor allem Amazon mit seiner KDP-Praxis am Pranger) an, so geht es interessanterweise vor allem um eines: die verloren gegangene Haptik. Der Geruch der Bücher, der fehlt. Die Gebrauchsspuren der gelesenen Bücher. Im Text verankerte Argumente, wie jenes, dass durch das Lesen von E-Books lieb gewordene Figuren aus den Geschichten verloren gehen, sind sicherlich nicht ernst gemeint: Denn, ob als gebundenes Buch, Originalmanuskript des Autors auf Schmierpapier, Taschenbuch oder E-Book – die Figur in der Geschichte bleibt gleich. Und warum sollte ich einen Charakter, der mittels Buchstaben zum Leben erweckt wird, weniger eindrucksvoll finden, wenn die Buchstaben auf einem Bildschirm zu sehen sind und nicht auf Papier? Ein Buch kann ich auf einem Kindle (oder Tolino oder oder …) genauso gut unter der Bettdecke, auf dem Sofa, auf dem Lieblingssessel lesen wie ein Taschenbuch. Wenn wenigstens in der Diskussion das Argument „Badewanne“ Erwähnung finden würde … etwa der Gedanke, die Sorge, das elektrische Gerät würde durch das Wasser oder vielleicht nur den Wasserdampf geschädigt, hielte einen vom genussvollen, intensiven Lesen ab …

Also Haptik. Ein Buch ist ein Buch, wenn es sich nach einem Buch anfühlt. Wurde es öfter gelesen, muss es riechen. Lag es in der Sonne, muss es vergilbt sein. Las ich es am Küchentisch, so dokumentieren die Kaffeeflecken sein Buchsein.

Das kann ein E-Book-Reader natürlich nicht bieten. Gleichwohl wage ich zu behaupten: Es ist nicht die Haptik, die aufgrund der neuen Lesegerättechnik verloren geht. Diese Veränderung der Haptik gab es schon immer. Ein von Mönchen abgeschriebener Foliant hatte eine andere Haptik als ein Buch, das durch Gutenbergs Druckmaschine entstand. Ein in Leder gebundenes Buch eine andere Haptik als ein in Pappe eingebundenes Hardcover, dieses eine andere als ein Taschenbuch. Auch Kindle oder ein Tolino haben ihre Haptik.

Es ist nicht die Haptik, auch wenn es gerne als Hauptargument herangezogen wird, die das E-Book manchen Autoren und Verlagen so bekämpfenswert erscheinen lässt. Es ist auch nicht die Marktmacht von Amazon, der Monopolkapitalismus, welche den wirklichen Angriffspunkt bilden.

Kindle und die Folgen?

Es ist der Verlust des Rahmens, der beunruhigt.

In E-Books fehlt der physische Buchdeckel, der jedes Buch vom anderen abgegrenzt hat: Das kleine schwarze Gerät mit Bildschirm löst den Buchdeckel ab. Da beim Wiederaufruf des gerade gelesenen Buches nicht der Titel erscheint, sondern die zuletzt gelesene Seite, verlieren Autorenname und Verlagsname, die Titelei, an Bedeutung. Und damit schwindet die Macht der hergebrachten Instanzen zu sagen, was lesenswert ist.

Die erzählte Geschichte steht also wesentlich mehr für sich selbst als zuvor. Was manche Autoren und Verlage beunruhigt, ist: Die Beziehung zwischen Verfasser und Leser wird enger, ohne dass eine kritische Instanz vermittelt. Oder genauer: Die Beziehung zwischen Text und Leser wird enger, ohne dass die vermittelnde Hand zur Seite steht.

Brauchen Leser diese kritische Instanz? Brauchen Leser eine Hand, die sie leitet und zu der richtigen Literatur führt?

Eine Geschichte gefällt oder nicht. Eine Geschichte gefällt nicht, regt aber zum Nachdenken an. Ein Text beeindruckt – und der Leser befasst sich mehr mit ihm. Ein Text lässt mich kalt.

Kann es sein, dass Autoren und Verlage, die gegen E-Books wettern, ihren Geschichten nicht trauen? Den Lesern nicht trauen?

Kanon versus Kindle? Elite versus E-Book?

Wie auch immer. Was zählt, ist die Geschichte, die fesselt. Die Figuren, die im Gedächtnis bleiben. Und was im Gedächtnis von vielen Lesern bleibt, dies wird den Kanon bestimmen. Egal ob auf einem E-Book Reader gelesen oder als Taschenbuch oder gebundenes Buch. Egal ob Verlagsprodukt oder Indie-Gewächs. Was bleibt, ist, was den Leser das Lesegerät vergessen lässt, was ihn ganz in die Geschichte eintauchen lässt. Was mit dem Ende der Geschichte kein Ende findet.

Ralf Boscher