Qindie-Challenge: Aufwach-Szenen

Und jetzt lässt Wortentbrannt die Puppen, bzw. kleine Stoffhasen mit krümeligen Nasen tanzen! Ring frei für die rheinische Frohnatur mit Hang zur Katastrophenlyrik, wortgewaltige Zeitreisende mit der Kölner U-Bahn in eine frühere Reinkarnation, Reginaaaaaaaa Mengel

 

Die Hand schließt sich um Annas Knöchel. Sie hört eine Stimme. Sie kann die Worte nicht verstehen. Sie zittert, fürchtet sich. Sie friert. Ihre Zähne schlagen aufeinander. Dunkelheit herrscht um sie herum. Ist sie gefangen? Wie jede Nacht durchlebt sie diesen Traum. Wie jede Nacht will sie ihn ergreifen, doch kaum, dass sie erwacht, entgleitet er ihr. Stattdessen fällt die Panik über sie her, krallt sich in ihren Rücken wie eine Raubkatze und atmet in ihren Nacken. Sie fühlt sich hilflos, einsam, sie bekommt keine Luft. Egal, wie tief sie einatmet, kein Sauerstoff kommt in den Lungen an. „Bleib ruhig, Luft anhalten; zähl bis fünf!“, ruft sie sich zu. Sie hält es nicht aus, es wird niemals aufhören. Die Beklemmung zerrt an ihr, zieht sie hinab in ein Loch, aus dem es kein Entrinnen gibt. Warum hilft denn niemand? Sie kann es nicht länger ertragen, ausgeliefert zu sein. „Lass los, Luft anhalten, zählen, einatmen! Atme, konzentriere dich, du schaffst es! – Eins – zwei – drei – vier – fünf – und ausatmen!“

Der Schwindel ebbte ab, aber noch gelang es Anna nicht, die Augen zu öffnen. Sie ballte die Hände zu Fäusten und kniff die Lider trotzig zusammen. Obwohl sie schon lange erwachsen war, hielt sie einen hellblauen Teddybär im Arm. Genau genommen war er eher schmutzig grau. Selbst ein Waschgang hatte ihm seine Farbe nicht wiedergeben können. Sein Pelz wies kahle Stellen auf, und ihm fehlte jede Rundung, er wirkte geradezu flunderartig zweidimensional. Trotzdem liebte Anna den Bären, er wohnte tagsüber auf ihrem Bett und leistete ihr in der Nacht Gesellschaft.

Sie schlug die Augen auf und versuchte sich zu orientieren. Normalerweise strahlte der Raum Ruhe aus, war Annas Refugium, dessen Einrichtung sie mit viel Liebe ausgewählt hatte. Heute jedoch blieb der Frieden aus. Während sie sich aufsetzte, sog sie die verbrauchte Luft ein, es stank nach Schweiß und Angst. Noch unter dem Einfluss des Albtraums klopfte sie das Kissen aus und strich über die Bettwäsche.

Mit einem Mal schien Blut die Wand hinab zu rinnen. Entsetzt schrie Anna auf. In Panik warf sie ihr Kissen und die Decke aus dem Bett. Ihr Herz raste. Sie schmeckte Metall. Jetzt erst bemerkt sie, dass sie sich die Zunge zerbissen hatte.

An der Wand dem Bett gegenüber hingen zwei Strandszenen, bei deren Anblick sie sich so oft zurück an den Strand von Fehmarn träumte. Nun liefen rote Schlieren über die Bilder. Schon drohte Anna in den Schrecken des Traums zurückzufallen, als sie die Ursache erkannte: Schuld trug das Rollo, das sie vor wenigen Tagen hatte anbringen lassen. Die eingeschalteten Scheinwerfer eines Autos leuchteten durch die damit verdeckten Fenster. Warum hatte sie sich auch ausgerechnet für Rot entscheiden müssen?

Es dauerte zwei Minuten, bis ihr Herzschlag auf Normaltempo zurückschaltete. Sie schüttelte mit dem Kopf. Wo war nur ihr gesunder Menschenverstand geblieben? Sie trat an das Sprossenfenster und schob das Rollo nach oben.

Regina Mengel: Mysterien der ZeitEin Zeitreiseroman der anderen Art

 

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Eine Woche lang. 1 Stichwort – 7 Texte.
Das Stichwort: Aufwach-Szene
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7 Replies to “Qindie-Challenge: Aufwach-Szenen”

  1. Sabine

    Die Raubkatze, die ihr in den Nacken atmet, und die blutigen Bilder, die dann doch nur von rötlich eingefärbtem Licht aufleuchten, sind auf jeden Fall starke Bilder.

    Ist eine Szene, der ein Traum voran geht, eine klassische No-Go-Aufwach-Szene? Ich denke nicht. Schließlich kann man dem Leser/der Leserin kaum die Reaktion der Prota vorenthalten. (Das hat natürlich nichts mit der Grundfrage zu tun – inwieweit es überhaupt No-Gos geben sollte).

    Jedenfalls bin ich schon sehr gespannt, was der Rest der Woche an Aufwach-Varianten bringen wird.

  2. Sylvia Dölger

    Ich habe dieses Buch gelesen und kann es sehr empfehlen. Da ich noch die erste Fassung verschlungen habe, denke ich, dass es nun in der Nueufassung noch besser geworden ist und bin schon gespannt. Die Aufwachszene hat es in sich. Wachsein und Traum verschwimmen miteinander! Liebe Grüße, Sylvia

  3. Maarten

    Gibt es wirklich Schreibratgeber, in denen Aufwach-Szenen ein No-Go sind?

    Seit ich von eurer Challenge gelesen habe, schwirrt mir Kafka durch den Kopf: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“

    Immerhin der zweite Platz bei dem Wettbewerb ‚Der schönste erste Satz‘, damals 2007.

    Gut, das Autoren keine Schreibratgeber lesen…

    Ich bin gespannt auf eure weiteren Challenge-Beiträge.

    1. Susanne

      … ich find das auch bescheuert. Aber wahrscheinlich könnte man aus allen Verboten, die man in Schreibratgebern findet, einen ganz wunderbaren Roman stricken. He – DAS wäre mal eine Challenge. 🙂

  4. Monja Freeman

    Wow, sehr aussagekräftig: die Farbe Rot (Blut, Gewalt, Aggression, aber auch Liebe), der Atem im Nacken (kann schön sein, aber hier eher Panikauslösend), die Hand am Knöchel (was kann das sein? ein Mensch? ein Monster?), dann hört sie Stimmen (woher?). Eine schlimme Panikattacke folgt dem Traum. Der Teddy, der ihr helfen soll, hat im Gegenzug zur angstmachenden Farbe des Zimmers, fast keine Farbe. Sie ist verblaßt, wie auch das wofür er steht (Geborgenheit, Schutz, Unbekümmertheit). Der jungen Frau muß etwas schreckliches geschehen sein.
    Kein schönes Erwachen!
    Aber das Buch würde ich gerne lesen!