Rattenauge

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In einem schneelosen Winter, der kein Ende nehmen will, dessen Tage nicht länger und Nächte nicht kürzer werden, sondern zu einem einzigen Grau verschmelzen, verwischen sich manchmal auch andere Grenzen.

Patrik lebt in einer verlassenen Fabrik, zusammen mit 9 Kindern.  Sie tauchten eines Tages, als er glaubte im Sterben zu liegen, bei ihm auf und blieben. Woher sie kamen, weiß er nicht, sie beantworten nie Fragen. Die 9 Kinder und eine verrückte Obdachlose versorgen den im Rollstuhl sitzenden Mann, bis das geschieht, was Patrik immer befürchtete: Eines der Kinder verschwindet. Die restlichen Mädchen, sich so ähnlich wie Spiegelbilder, versuchen es zu verheimlichen.
Viktor Winter, ein renommierter Wissenschaftler, findet eines Morgens eine Kinderleiche in seinem Büro. Sie erinnert ihn mit Erschrecken daran, dass es einmal 9 Mädchen gab, die ihm ihre Existenz  … und ihren Tod zu verdanken hatten.

Ein Schatten erwacht. Er ist eine Gestalt des kollektiven Unterbewusstseins, er ist der Rattenfänger, der Wanderer, der Schwarze Mann und er ist auf der Suche nach den Kindern.

Wie bei einem fehlerhaftem Programm, dass seinen Zweck schon lange verloren hat, “programmiert” sich die Wirklichkeit in der Nähe des Schattens um. Die Grenzen zwischen “Real” und “Märchen” werden neu gezogen.

Jacqueline Spieweg: Rattenauge

 

One Reply to “Rattenauge”

  1. Karin

    Etwas besseres als den Tod?

    Die blinde Katharina zieht bei ihren Eltern aus, um sich aus deren besorgten Umklammerung zu lösen. Dabei trifft sie auf Patrick, der im Rollstuhl sitzt und in einer Lagerhalle wohnt, zusammen mit neun identisch aussehenden blonden Mädchen. Irina, eine Freundin von Patrick macht sich auf, um den Froschkönig zu bekämpfen und gelangt dabei an eine Reihe von Zaubersprüchen. Im Büro eines Wissenschaftlers liegt die Leiche eines jungen Mädchens. Und eine alte einäugige Sagengestalt erwacht aus einem langen Schlaf und fordert alte Schulden ein.

    Kennt ihr den Dämmerzustand zwischen Wachsein und Schlaf? Den Zustand, in dem sich die Gedanken aufmachen und eigenen, nicht vorhersehbaren Wegen folgen? Genauso ist dieses Buch: Wirklichkeit und Traumwelt (oder besser in diesem Fall die Märchenwelt) fransen an den Rändern aus und vermischen sich. Das heißt jedoch nicht, dass es in dem Buch keine Handlung geben würde, ganz im Gegenteil. Während der Roman anfangs immer mehr Fragen aufwirft, werden diese durch die Autorin nach und nach beantwortet, soweit das möglich ist; denn genauso wie der Dämmerzustand bei jedem Menschen individuell ist, so ist auch die Wahrnehmung der Realität durch die Charaktere in dem Buch unterschiedlich. Dadurch bleibt es dem Leser offen, für welche Realität er sich entscheidet – oder sich Gedanken zu machen, ob es noch weitere Möglichkeiten gibt. Es gibt nicht die eine Lösung, sondern viele Lösungen, daher bleiben ein paar Fragen vage, was meiner Meinung hervorragend zu dem Roman passt.

    Die Autorin spielt sehr geschickt mit den Perspektiven und den beiden Realitäten: teilweise wechseln innerhalb weniger Sätze die Perspektiven und diese wiederum sind von verschiedensten Elemente der Märchen- oder Sagenwelt durchzogen.

    Der Roman hat eine Menge Charaktere, so dass ich anfangs befürchtet habe, den Überblick zu verlieren, aber das war unbegründet, da die Figuren irgendwie alle miteinander verbunden sind.

    Eine meiner Lieblingsfiguren ist Irina, eine Obdachlose mit einem ganz speziellen Hobby. Ihre Welt besteht aus wuchernden Dornensträuchern, Prinzen, die sich dämlich bei der Befreiung von Rapunzel anstellen und einem bösen und hinterlistigen Froschkönig, den es zu bekämpfen gilt. Ausgerechnet Irina, die den Eindruck macht, den Bezug zur Realität verloren zu haben, ist das Bindeglied zwischen der realen und der Märchenwelt – und mit ihren gefundenen Zaubersprüchen schubst sie die Handlung in die richtige Richtung.

    Katharina und Patrick muss man ebenfalls gern haben, sie sind herzensgute Menschen mit einem Handicap, die den Weg in die Freiheit suchen bzw. gefunden haben. Ein Rätsel geben die neun Mädchen auf, die bei Patrick leben und sich um den kranken Mann kümmern: warum sehen sich optisch alle gleich aus?

    Einige weitere Figuren kämpfen tagtäglich mit ihren persönlichen Dämonen, aber nach und nach bieten sich Auswege an, die Hoffnung geben. Dagegen geraten diejenigen mit offenen Schulden am Zahltag in ihren persönlichen, gruseligen Albtraum – und dass alles ohne Blutvergießen, dafür kann man diese Albträume durchaus als kafkaesk bezeichnen. Dabei zerfasern die Wirklichkeit und die Wahrnehmung der Schuldner, so dass sie diese unterschiedlich erleben. Und es stellt sich die Frage, ob sie wirklich etwas besseres als den Tod bekommen haben.

    Die Grundstimmung dieses hervorragenden Romans ist eher düster, aber am Ende auch hoffnungsvoll, jedenfalls für die Protagonisten, die keine offene Schulden haben. Mich hat der Roman völlig in seinen Bann gezogen und es hat mich überhaupt nicht gestört, dass manche Dinge am Ende vage bleiben, im Gegenteil, das passt so viel besser.