Die erste Teilnehmerin tritt in den Ring. Ein warmes Willkommen und einen Riesenapplaus für die Herrin der auf der Seite explodierenden Worte, die Tänzerin im Sturm zwischen Wirklichkeit und Traum, Beherrscherin der Ratten, Jaaaaaaaacqueline Spieweg!
Iris Lyth öffnete die verquollenen und brennenden Augen. Flimmernd tauchte ihr Wohnzimmer hinter einem milchigen Schleier auf. Nichts konnte sie deutlich oder klar erkennen, das Fleisch und die Haut, die sie einhüllten, fühlten sich schwer und wie etwas vollkommen Fremdes an. Eine teigige Masse ohne Knochen. Wann hatte man ihr ihren Körper weggenommen und in das hier gesteckt? Hatte sie geschlafen? Ihr Blick fiel auf einen Staublappen in ihrer rechten Hand, und sie wusste nicht, was das bedeutete. Seltsam, manchmal konnte sie die Augen kaum offen halten, verbrachte sie ganze Tage oder Wochen taumelnd, ohne wirklich wach zu sein und kam dann an Orten zu sich, an die sie sich nicht erinnern konnte. Dann wiederum gab es Zeiten, wo sie keinen Schlaf fand, wo sie Nacht für Nacht wach lag.
Iris Lyth schloss kurz die Augen, sie taten weh. Die Lippen aufgesprungen und rissig. Drückende Hitze, die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht. Sie stand vor der Schrankwand. Verschwommen sah sie das Foto ihres Mannes in dem Regal stehen. Der Rahmen glänzte silbern.
Sie griff nach dem Bild und betrachtete es. Ihr Mann hatte ganz helle, weißblonde Haare, sein Gesicht viereckig und aufgequollen, seine Haut ungesund gerötet. Er trank zu viel.
Erschrocken über das, was sie da tat, schob sie das Bild hastig wieder an seinen Platz zurück. Ihre Hand schmerzte, da, wo sie den Rahmen berührt hatte. Dennoch musste sie das Bild noch einmal anfassen, es musste nach ganz hinten, in die hinterste Ecke des großen Faches. Sie rückte die Obstschale mit den künstlichen Äpfeln wieder zurecht, bis sie das Bild verdeckte.
Jacqueline Spieweg: Rattenauge
Challenge-Time bei Qindie! Q-Autoren senden auf Zuruf zu einem Stichwort eine Textstelle ein.
Eine Woche lang. 1 Stichwort – 7 Texte.
Das Stichwort: Aufwach-Szene
Am nächsten Sonntag verschenken wir 3 Buchpakete (wahlweise als Mobi oder ePub), in denen alle Bücher enthalten sind, aus denen die Texte stammen, an diejenigen, die bis dahin die lustigsten/schrägsten/originellsten Kommentare zu den Texten hinterlassen.
Heute ist Muttertag, und ich genieße ihn gerade. Ein Tag nur für mich, ohne Verpflichtungen und ohne Hausputz oder andere Haus-Arbeiten. Und da lese ich diese Szene …
… und denke unweigerlich an eine entnervte Hausfrau, die sich irgendwo zwischen Wahnsinn und Realität wiederfindet. Die während des Putzens einem Tagtraum erlegen war und plötzlich aufwacht, den Staublappen in ihrer Hand verwirrt und ungläubig anschaut. Dann das Bild ihres Mannes, von dem sie sich schon lange entfernt hat. Dem sie dieses Leben zu verdanken hat, von dem sie aber nicht loskommt. Sie ist nicht mehr sie selbst, ist gefangen in einem fremde Körper, der zwar noch funktioniert, den sie ansonsten aber nicht mehr zu sich gehörig zählt, da ihr Geist sich in ganz andere Sphären befindet.
Dank des Titels bildete sich vor meinem Auge auch kurzzeitig das Bild einer Kreuzung aus Ratte und Mensch – aufrecht stehende, rauchende Ratte, die ihr Wohnzimmer putzt -, aber das habe ich schnell wieder verworfen, denn ich hasse Ratten.
Auf jeden Fall hat mich der Ausschnitt echt neugierig gemacht, sodass ich mir schon eine Rezension durchgelesen habe. Wenn ich jetzt noch die Garantie bekomme, dass hier keine Ratten eine große Rolle spielen, dann muss ich das Buch unbedingt lesen. Auf meine Wunschliste habe ich es eben schon mal geschoben.
Ich habs schon gelesen: Die Ratten sind in der Tat nebensächlich. Nagetier-Ekelszenen erwarten dich nicht. Kannst dich also getrost ranwagen, Ines. :))
Hallo Ines,
nein die Ratten spielen keine größere Rolle, sie stehen eher als Symbol für das, was unter der Oberfläche, lauert, von dem man umgeben ist, ohne es zu merken.
Es gibt tatsächlich nur zwei Szenen mit Ratten von denen die eine, in der Mitte des Buches, als Wendepunkt, im Stil einer Fabel erzählt ist.
Das Buch steht ja schon auf meiner Wunschliste, aber die Szene mit dem Foto erinnert mich sehr en mich selbst. Erst gestern habe ich die Fotos meines Mannes umgedreht oder in Schränken verstaut – lach. Was für eine unheimliche Gemeinsamkeit zu dieser Buchszene. Auch ich stand vor dem Schrank und habe das Foto erst betrachtet, festgestellt, das das nicht mehr paßt und es dann verräumt. Mir ist allerdings ein kleiner Stein vom herzen gefallen, eine kleine Erleichterung, noch ein Stück neuanfang entstanden. Ich bin erstaunt, was man alles aus so einen Ausschnitt herauslesen kann und das es dann seltsamerweisen Parallelen zu einen selber gibt.
Jetzt will ich das Buch erst recht lesen!
Liebe Monja,
Jetzt wo du es sagst, ja, das kenne ich auch. Zum Teil wirklich mit Sachen aus dem eigenen Leben und dann habe ich zwischen meinem und anderen Büchern.
Ich habe kurz hintereinander erst Corvidae und dann Fida gelesen, bei beiden gab es seltsame Parallelen. Bei Fida zum Beispiel am Anfang, als die Mutter dort ebenfalls (nicht ganz bei Sinnen) anfing zu putzen. War schon beinahe unheimlich
Ja Monja, es ist irgendwie erschreckend, diese parrallelen zu diesem Text. Auch mir ist es nicht anders gegangen, habe nur nicht vor dem Schrank mit dem Bild meines Mannes abgehangen (Oha, das reimt sich auch noch). Es stand auf einem kleinen Tisch. Allerdings habe ich es nicht verbarrikadiert oder umgelegt, sondern aus dem Fenster geschmissen. Er kann von Glück sagen, daß es nur das Bild von ihm war. Lächelnd zwinker.
Man fühlt sich wirklich, als wäre man aus einr Art von Trance erwacht. Das war der erste Schritt für eine Art Befreiung, nach unsäglichen jahrzehnten des Drangsalierens. Es wachsen weinem ,,Befreiungsflügel,,, um damit, wie der Phönix aus der Asche, sich zu erheben und neu geboren durchzustarten.
Liebe Marlies,
Glückwunsch zu den Befreiungsflügeln und zum Ende des Drangsalierens.
Und Danke für das Bild mit dem Phönix aus der Asche, denn dass trifft wiederum für viele Figuren aus dem Roman zu. Sie erfahren Befreiung, nachdem das Leben sie zu Asche verbrannt hat. Jeder auf eine etwas andere Art, manche plötzlich, andere still und allmählich. Einige haben diesen Moment in dem Zeitausschnitt in dem dieser Roman spielt schon hinter sich, bei anderen wird er nur angedeutet, da er erst stattfinden wird, wenn diese Erzählung schon zu ende ist.